Ich habe heute „Kaffee oder Tee“ geguckt

In den frühen 1980er-Jahren gab es im ersten Programm der ARD eine Talkshow für junge Leute: „Kaffee oder Tee?“ Sie lief am Sonntagvormittag um 11.15 Uhr mit zum Teil brisanten Themen. Sie wurde 1985 abgesetzt.
Im Jahr 2000 suchte der Südwestrundfunk nach einem Namen für eine neue Sendung. Und weil die Möglichkeiten beschränkt sind, kam man wieder auf „Kaffee oder Tee“. Diesmal allerdings ohne das Fragezeichen. Sie kommt Montag bis Freitag um 16.05 und dauert zwei Stunden lang. Heute ist, scheint’s, der Internationale Tag des Hörens, und wir erfahren, was die In-Ear-Kopfhörer von Sennheiser bis Xiaomi so drauf haben und warum wir unbedingt frühzeitig ein Hörgerät anschaffen sollen. Das Publikum von damals ist älter geworden.

Und „Kaffee oder Tee“ ist zum Verbrauchermagazin geworden. Es präsentiert nicht nur Technik, die man sich ins Ohr stopft, sondern auch „lustige Faschingsideen für klein und groß“ und Rezepte (für „zwei leckere Rührkuchen“). Zudem einen Bericht über die Neuigkeiten aus den europäischen Königshäusern.

Was Verbraucher halt so brauchen. Und dazwischen eine schnelle Umfrage. Der Moderator:

„Uns interessiert Ihre Meinung, und dafür müssen Sie nur ein Mal klicken. Denn es gibt etwas ganz Neues hier, bei „Kaffee oder Tee“, Sie finden es im Internet unter Mein SWR Punkt de eh. Und so funktioniert es.

Ein kurzes Video  erklärt:

Machen Sie mit! Ihre Meinung zählt! Nehmen Sie jetzt Ihr Tablet oder Handy. Geben Sie meinswr.de ein. Wählen Sie aus und stimmen Sie ab! Live dabei sein! Los gehts!

Man sieht ein Cartoon von zwei typischen SWR-Zuschauern. Sie haben auch schon ihre Meinung. Die Figur links ist für Daumen hoch, die rechts für Herzchen:

Bist du für Herzchen oder für Daumen hoch? – Es wird sich gleich zeigen. Die Verbrauchersendung hat die folgende Frage:

Ja, unsere Frage heute beschäftigt sich mit den Sanktionen gegen Russland im Bereich Sport und Kultur. Die Mannschaft bei den Paralympics in China sind nun doch von den Spielen ausgeschlossen, auch die Fußballnationalmannschaft von Russland darf bei der Fußballweltmeisterschaft nicht mitmachen, und auch die Kultur ist von Sanktionen betroffen, Sie haben es schon mitbekommen, der Dirigent der Münchener Philharmoniker, Valerij Gergiev, der ein Putin-Vertrauter ist, dem wurde gekündigt, weil er sich bislang nicht klar von Putin distanziert hat.

Das also möchte “Kaffee oder Tee” wissen:

Sind solche Sanktionen im Bereich Kultur und Sport Ihrer Meinung nach richtig? Also: Finden Sie das richtig? Das ist unsere Frage an Sie, und wir freuen uns auf Ihre Meinung,

Dann, um 17.07 Uhr, wird der Startschuss zur Umfrage gegeben: “Sie können jetzt direkt anfangen abzustimmen.” Und dann erfahren wir auch gleich mehr:

Wir haben Sie zu diesem Thema auch vorhin schon aufgerufen, dass Sie uns schreiben, dass Sie uns anrufen und Ihre Meinung äußern, und wir haben auch bestimmt schon die erste Anruferin in der Leitung, das kann ich oben im Monitor sehen, […] Das ist die Frau Opel. Hallo, Frau Opel…

Frau O. ist 86 Jahre alt, war früher eine aktive Sportlerin und sie ist entsetzt, „dass man die Sportler immer als Geisel der Politik nimmt“.  – Die zweite ist Frau Noack. Auch sie findet es „völlig falsch, die Sportler auszuschließen“. – Der Moderator wirkt nicht gerade glücklich. Er schiebt eine kleine Belehrung dazwischen:

Wobei der Hintergedanke, einmal kurz zur Erläuterung, auch für unsere anderen Zuschauerinnen und Zuschauer, is’ ja, dass der Verband ausgeschlossen wird und nicht Einzelsportler, die bei Einzelsportwettkämpfen antreten, aber weil es eben die russische Nationalmannschaft ist, deswegen wird diese Mannschaft, das komplette Team dann ausgeschlossen. (Verband und National hat er zur Verdeutlichung besonders betont.)

Frau N. lässt sich nicht beschwichtigen. Sie führt auch die Schach-WM an, die abgesagt wurde: „Das geht einfach nicht.“

Also Sie sind eindeutig dagegen. Danke Ihnen für Ihre klare Meinung!

„Ja, es tut mir weh, es tut mir einfach weh.“

Mhm. Okay. Dankeschön, alles Gute für Sie. Tschüss, danke für den Anruf.

Frau N. hat tapfer weitergesprochen. Aber es muss ja weitergehen. Die Facebook-Beiträge sind dran. Auch die sind anscheinend eher contra als pro:

Wir haben äh viele Posts von Ihnen bekommen auf unserer Facebook-Seite, und auch da zeichnet sich ein Bild ab, was ein bisschen Rich – in die Tendenz geht, dass Sie es nicht gut finden, wenn Sportler von den Wettbewerben ausgeschlossen werden. Wir haben ein geteiltes, geteilte Meinung bei Facebook, aber ’n bisschen mehr die Tendenz Richtung Unverständnis.

Dann zitiert er sieben Posts. Drei von ihnen sind dafür, vier dagegen. (“Tendenz Richtung Unverständnis” ist seine Art, das zusammenzufassen.)

Also wie gesagt: Da eine zweigeteilte Meinung.

Um 17.11 Uhr, also nach vier Minuten, ist auch die Online-Abstimmung vorbei:

Und unsere Umfrage an Sie unter meinswr.de hat auch ein Ergebnis. Da sagen 84 Prozent der Menschen, die sich beteiligt haben: Ja, sie finden es richtig, dass es diese Sanktionen gibt, und 16 Prozent der Menschen sagen: Nein, sie finden das nicht richtig, dass es Sanktionen auch im Bereich Kultur und Sport gibt. Vielen Dank, dass Sie sich an dieser Abstimmung beteiligt haben.

In vier Minuten haben 84 Prozent der Teilnehmenden auf meinswr.de auf „Richtig“, 16 Prozent auf „Falsch“ geklickt. Nur – wie viele ergraute Kaffee- oder Tee-Trinker haben zum Handy oder Tablet gegriffen? Welche Zahl hat umgerechnet das Verhältnis 84:16 ergeben? Zehntausend? Tausend? – Es wird uns nicht gesagt. Vielleicht waren es 775. Das ergäbe ein Verhältnis von 651 (pro) zu 124 (contra). Vielleicht waren es auch nur 25. Das wäre dann 21 (pro) zu 4 (contra).

Ich habe heute “Kaffee oder Tee” geguckt und viel gelernt. Im Frauenzimmer Koblenz „wird viel geredet, da wird Kaffee getrunken, da wird auch Selbstgebackenes mitgebracht“. Der kleine Willi „hat ein ganz, ganz kuschelweiches Fell, wie so’n Teddybär, er ist vier Monate alt und er hat sich auch schon seine Söckchen angezogen.“ Die Kamelie ist „im Winter immer grün und im Frühling eine der ersten, die blüht“. Und ins Bananenbrot muss nicht unbedingt Erdnussbutter rein, „kann man einfach durch ‚nichts’ ersetzen“. Das alles habe ich gelernt. Und dass, wenn man Sportlerinnen und Sportler von den Paralympics ausschließt, nicht Menschen gemeint sind, sondern nur ein Verband.

Und wie man Telefongespräche effizient beendet. Man sagt: “Danke für Ihre klare Meinung!” Und wenn das nicht reicht, schiebt man weitere aufbauende Floskeln nach:

Mhm! Okay! Dankeschön! Alles Gute für Sie! Tschüss! Danke für den Anruf!

Sechs Nettigkeiten. Keiner wird es verstehen als Umschreibung für: Sorry, wir kippen dich jetzt aus der Leitung.

Destruktives Geschwurbel

Russia Today, Putins Sprachrohr für die Welt außerhalb Russlands, räumt immer wieder Platz ein für Kommentatoren, die die politischen Ereignisse mit intellektuellen Analysen erhellen. Zum Beispiel für Sergej Karaganov, der u.a. einen namhaften russischen Think-Tank vertritt. Er skizziert schon länger schonungslos „Russlands neue Außenpolitik, die Putin-Doktrin.“ Ein Kernbegriff: die konstruktive Zerstörung:

Es scheint, als sei Russland in eine neue Ära seiner Außenpolitik eingetreten – eine “konstruktive Zerstörung”, wie wir es nennen, des bisherigen Modells der Beziehungen zum Westen.

„Konstruktive Zerstörung“ – auf Russisch konstruktivnaja rasrušitel’nost’ – das klingt nach Newspeak, nach George Orwells „1984“, wo die Menschen mit Parolen wie: „Krieg ist Frieden“ eingelullt werden. Karaganovs Artikel ist ansonsten schonungslos offen. Aber dieser Kernbegriff schafft problemlos den Anschluss an die Euphemismen des großen Vaterlandsverteidigers Big Vlady.

Contradictio

Contradictio in adiecto nennen es die Lateiner, wenn in einem Ausdruck ein Begriff mit einem Attribut versehen wird, der ihm widerspricht. Nun – Karaganov erklärt über viele Seiten die angebliche Notwendigkeit einer Politik, die die bisherige Beziehung zum „Westen“ unerbittlich zertrümmert:

„Konstruktive Zerstörung ist nicht aggressiv. Russland behauptet, dass es niemanden angreifen oder in die Luft jagen wird. Es hat es einfach nicht nötig.“

So geht es weiter. Dass eine Sache zerstört wird, ist also konstruktiv und überhaupt „nicht aggressiv“. Russland will niemanden angreifen? Niemanden „in die Luft jagen” (podryvat’)? Wir sind zur Zeit alle Zeugen dieser friedfertigen Politik.

Paradoxe Phrasen klingen klug

Dummerweise haben auch deutsche Autoren diesen Newspeak entdeckt. Und Russia Today druckt alles dankbar ab. Ein Uli Gellermann, der hier als „Publizist“ vorgestellt wird, wird zitiert mit seiner Behauptung:

Offenkundig hat die russische Führung einer atomaren Erpressung zuvorkommen wollen und begreift den Einmarsch als Krieg gegen den Krieg.

Das ist ein Zitat aus Gellermanns Website „Rationalgalerie“. Es wirkt immer wieder besonders intellektuell, wenn man Begriffe, die sich scheinbar widersprechen, zu einer Pseudo-Erklärung zusammenmixt. Vernebelungstaktiker paart sich mit konstruktivem Zerstörer.

Wishful Thinking und Geschwurbel

Hermann Ploppa, Vertreter mehrerer deutscher Vordenker-Gruppierungen („Die Basis“, „Bürgerliste Weiterdenken“, „Demokratischer Widerstand“), erklärt den Krieg gegen die Ukraine allen Ernstes so:

Bevor den Russen das Messer an die Kehle gesetzt wird, holt Putin zum Befreiungsschlag aus.

Er meint ungefähr: Bevor die NATO die Russische Föderation mit Atomwaffen angreift, wird mal ein weiteres Nachbarland eingenommen. Zu Deutsch heißt das ungefähr: „Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen.“

Kein Wunder, dass Russia Today den Text, in dem Ploppa u.a. insinuiert, er gehöre zur „deutschen Friedensbewegung“, an prominenter Stelle abdruckt. Das ist natürlich nicht mehr Newspeak, das ist Wishful thinking. Übrigens enthält der Artikel einige historische Aspekte, die hierzulande zu wenig diskutiert werden. Aber was können die aussagen, wenn sie zusammengemengt werden mit Sätzen wie:

„Selbstverständlich umfasst der Kampf gegen die Corona-Diktatur auch den Kampf gegen die nukleare Bewaffnung unserer östlichen Nachbarn.“

Ja, wenn es Lyrik wäre

Mit guten widersprüchlichen Ausdrücken lässt sich spielen und oft mehr aussagen als mit direkten Worten. Aber in politischen Kommentaren dienen sie vor allem dazu, sich um eine klare Analyse der Fakten zu drücken.

Ja, wenn es Lyrik wäre. Dann ließe sich über solches Geschwurbel trefflich reden.Man könnte zum Beispiel Santiano hören, die deutsche Shanty-Rock-Gruppe. Sie hat 2021 auf ihrem düsteren Album Wenn die Kälte kommt das Lied „Nichts als Horizonte“ veröffentlicht. (Alles grau, und der Weg ist noch so weit. / Keiner spricht, schwer und bleiern kriecht die Zeit…) – Es ist ein Depri-Text, den man schnell vergessen könnte, hätt)e darin Autor Frank Ramond nicht ein kleines Juwel platziert:

Diese raue, blaue Weite
Bringt mein Herz um den Verstand.

Im deutschen Schlager sind Herz und Verstand meist Gegensätze (Petula Clark: 1962: „Mein Herz sagt ja, doch mein Verstand sagt nein…“). Aber hier sind Herz und Verstand eine Verbindung eingegangen, und die droht zu zerbrechen. Oxymoron nennt es der Literaturkritker, und je nach dem hält er es für eine stilistische Perle oder eine Stilblüte.

Es wird Tage brauchen, bis ich die Tiefe dieses Satzes ausgelotet habe. Das ist der Sinn von Lyrik. Ich kann es allerdings auch lassen – angesichts von Ereignissen, die nicht Herzen, sondern Menschen um den Verstand bringen. Weil da irgendwo ein Putin und seine Adlaten sitzen. Die Krieg führen, nicht „Krieg gegen den Krieg“. Die auf Zerstörung aus sind, nicht auf „konstruktive Zerstörung.“ Und die nicht das Herz eines Menschen um den Verstand bringen, sondern die bei vollem Verstand Menschen mit Herz umbringen.

Schriftliche Prüfung in praktischer Rhetorik – wie geht das?

Das Thema des mehrteiligen Seminars hieß: Dein Auftritt. Vertreter*innen verschiedenster Berufe haben sich in lauter praktischen Aufgaben bewährt:

  • Atem, Stimmbildung, Artikulation
  • Freies Formulieren
  • Argumentation
  • Storytelling
  • Nonverbale Kommunikation vor Publikum
  • Nonverbale Kommunikation vor Mikrofon und Kamera
  • Moderation von Gesprächen
  • Interviews führen
  • Längere und kürzere Reden konzipieren
  • Sprachliche Gestaltung von Reden

Jetzt ist der Kurs vorbei, und sie brauchen ein schönes Zeugnis, das ihnen die erfolgreiche Teilnahme bestätigt.

Wie kann man das prüfen?

Nun – die Antwort ist zunächst ganz einfach: mit einer praktischen Aufgabe. Die Prüflinge pflanzen sich vor einem kleinen Publikum auf und halten eine Rede. Im Idealfall sind es mehrere Aufgaben, z.B.:

  • ein kurzes, improvisiertes Statement (1 Minute zu einem aktuellen Thema, 5 Minuten Vorbereitung)
  • eine längere, vorbereitete Rede (3-5 Minuten zu einem Thema aus der eigenen Berufspraxis, z.B. Vorstellung eines neuen Produkts vor Kunden)
  • Befragung eines Interviewpartners (2 Minuten nach kurzem Vorgespräch)

Was wird damit geprüft?

  • Aufbau, Argumentation, Formulierung
  • Sprecherische Fertigkeiten (Umgang mit Intonation usw.)
  • Fragetechnik, Zuhören

Reicht das?

Nun – einige Aspekte bleiben außen vor, weil sie für eine mündliche Prüfung zu viel Zeit kosten würden. Zum Beispiel kann die wichtige Frage nach der Dramaturgie eines längeren Vortrags so nicht überprüft werden. Eine Hilfskonstruktion wäre (mündlich oder schriftlich zu lösen):

  • Erstellen eines Konzepts für eine praktische Rede-Aufgabe (Ausrichtung auf das Zielpublikum, Aufbau, Kernsätze inkl. Begründungen)

Aber auch die in solchen Kursen immer gewünschte Fähigkeit des Feedbacks fehlt: Wie kann ich einer Kollegin oder einem Mitarbeiter eine konstruktive Rückmeldung geben bzw. sie vor einem Auftritt briefen?

Das kann in der Prüfung auf zwei Arten getestet werden:

  • mündlich: Prüfungsgespräch mit Dozentin oder externer Expertin: Ein praktisches Beispiel wird vorgelegt (Video oder Text) und besprochen.
  • schriftlich: Analyse eines praktischen Beispiels

Die mündliche Version benötigt wieder viel Zeit, hat aber den Vorteil, dass sie näher bei der bisherigen Unterrichtspraxis liegt: Die schriftliche Analyse wurde (in den Fällen, die ich kenne) kaum geübt. Damit tritt eine Fähigkeit (Konzeption und Verfertigung einer rhetorischen Expertise) in den Vordergrund, die stark davon abhängt, was die betreffende Person schon mitbrachte. – Auf der anderen Seite hat die Schriftform den Vorteil, dass Prüfungszeit gespart wird, während den Geprüften mehr Zeit zur Reflexion bleibt, und auch, dass allen Teilnehmenden dieselbe Aufgabe gestellt werden kann.

Fazit:

Wer ein Rhetorik-Programm anbietet, das auch längere Auftritte einschließt, kommt bei der Prüfung nicht um eine analytische Komponente herum. Wird diese mündlich abgefragt, braucht es Zeit und für sämtliche Teilnehmenden unterschiedliche, aber vergleichbare Aufgaben. Wird dieser Aspekt schriftlich geprüft, darf fairerweise die verwendete Metasprache nicht gewertet werden, weil sie nicht Thema des Kurses war.

Viele Probleme kann eine hybride Form lösen: Die Aufgabe besteht in der Erstellung eines Konzepts für eine Ansprache. Dieses enthält einzelne ausformulierte Teile und Begründungen für die Wahl des Aufbaus, der Argumente und Kernsätze.

Die Sehnsucht nach autoritären Rednern

Corona hat uns eine neue Art der politischen Rede gebracht. Die, deren Botschaften von Unsicherheit und Nichtwissen geprägt sind. Jörg Häntzschel, Feuilleton-Redakteur der Süddeutschen Zeitung, findet das bedauerlich.  Er wünscht sich eine Bundeskanzlerin, die die Bundesrepublik mit klaren, autoritativen Botschaften durch „die schwerste Krise ihrer Geschichte“ führt.

„Wir haben Führungspersönlichkeiten gewählt, keine Sozialpädagogen, die ihre Worte bedachtsam wählen, damit sie nicht böse klingen.“

Sein Vorbild sind Jeff Smith und Helmut Schmidt.
Jeff Smith? – Der junge, unerfahrene Politiker aus dem tollen alten Film von Frank Capra, der im Kapitol fast 24 Stunden lang redet – allerdings gerade ohne mit seinen Inhalten überzeugen zu können.
Helmut Schmidt? – Der Bundeskanzler, der nach der Ermordung Hanns-Martin Schleyers einen dramatischen Appell an den „Willen des Volkes“ richtete. Jeder habe die “unabweisbare moralische Pflicht”, die Behörden mit Hinweisen zu unterstützen.

Ich wünsche mir zu Zeiten von Corona keinen Schmidt und keinen Smith (und auch keinen Macron und keinen US-Präsidenten wie offenbar Häntzschel). Denn wir sind weder unter korrupten Senatoren (wie bei Capra) noch im deutschen Herbst mit seinem klaren Feindbild.

Corona hat uns eine Krise beschert, in der wir uns anhand aktueller Erkenntnisse der Wissenschaften orientieren müssen. Und wir erleben genau das, was wissenschaftliche Erkenntnis ausmacht: Unsicherheit, Suche, Dispute.

Wir erleben, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Meinung erst langsam fassen, dann sogar ändern und dass sich das Bild von der Krise erst im Lauf der Zeit ergibt.
Das ist unbefriedigend, wenn man auf einfache politische Lösungen hofft. Aber es ist auch eine einmalige Chance. Die Wissenschaft ist von ihrem Sockel heruntergekommen und lässt uns an ihrem Suchprozess teilhaben. Eine verantwortungsvolle Politikerin muss zwar trotzdem Entscheidungen fällen, sie wird aber dieser Dynamik Rechnung tragen.

Ausländischen Beobachterinnen fällt dagegen die gigantische Angst der Deutschen vor Kontrollverlust auf, der man nur begegnet, indem eine Regeln über Regeln aufgehäuft werden.
Eine finnische Radiojournalistin hat in diesem Herbst ein nettes Bild geprägt. Die Deutschen wünschten sich als politische Führerin die Mama eines Teenagers, die, ohne lange zu überlegen, sagt: „Jetzt kriegst du Hausarrest. Du machst keinen Schritt mehr vor die Tür.“ Ihre Alternative: die Mutter, die fragt: „Wie geht’s dir?“ und: „Ist alles in Ordnung?“

Eine politische Rede, in der sich PolitikerInnen zur Ungewissheit bekennen, mag manchmal frustrieren. Aber sie enthält immerhin etwas mehr Wahrheit als eine, die lospoltert, als ob alles längst klar wäre.

Das Publikum aufwecken – Teil 2

Um das Publikum aufzuwecken, musst du selbst aufgeweckt sein. Das heißt: Du musst „dabei“ sein, wenn du sprichst. Das heißt: Du bist dir bewusst, was du tust, und dass du es zusammen mit deinem Publikum tust.

Es kann vorkommen, dass du dich während einer längeren Online-Präsentation schrittweise von deinem Publikum entfernst. Eines von vielen Anzeichen dafür: Deine Stimme wird monotoner und etwas kraftloser.

Das kann jedem passieren

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Das Publikum aufwecken – Teil 1

Ein Vortrag dauert 45 Minuten oder länger. Du bist bei Minute 42 und denkst: Warum fällt es mir hier so schwer, bei der Stange zu bleiben?

Oft ist das Auffallendste die Gleichförmigkeit der Intonation: Jeder Satz sagt mit seiner ansteigenden Melodie, dass gleich ein weiterer folgen wird. Und dann noch einer und noch einer.

Wenn schon Variation in der Melodie (und im Rhythmus) erzielt werden könnte, wäre viel gewonnen.

Variation in der Melodie: Wie geht das?

Am leichtesten fällt es dir, die Intonation zu variieren, wenn du dir Folgendes klarmachst:

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Tipps für den Online-Vortrag (Teil 5)

Warum fasziniert der Held der Steine auch dann, wenn man sich nicht für Noppen-, Klemm-, Lego-, BlueBrixx, BanBao und andere Steine interessiert? – Weil er vor der Kamera Dinge tut und dazu sagt, was er tut.

Der Held vermeidet die Text-Bild-Schere

Das ist die einfachste Formel für einen guten Video-Vortrag:

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Tipps für den Online-Vortrag (Teil 4)

Kontakt gelingt online, wenn eine Verbindung zwischen deinem eigenen Raum und dem Raum der Zuhörerin/des Zuhörers entsteht. Zum einen ist das eine Sache der Optik: Du gestaltest deinen Raum so, dass man ihn als Raum wahrnimmt und sich darin zurechtfindet.

Nähe durch den Klang der Stimme

Zum anderen ist es eine Sache der Akustik: Weiterlesen

Tipps für den Online-Vortrag (Teil 3)

Blickkontakt ist das A und O des Vortrags. Aber mit den Mitteln, die wir Amateure zur Verfügung haben, ist es nicht leicht, Blickkontakt mit dem Publikum aufzunehmen. Denn das Publikum ist durch eine ziemlich leblose Kamera ersetzt.

Übe den Kontakt mit der Kamera.

Sie ist meistens ein nicht viel mehr als ein grüner Punkt oberhalb deines Bildschirms. Versuche, genau diesem Punkt etwas zu erzählen und dabei den Blickkontakt zu wahren.
Beim Vortrag wirst du dich zwischendurch auf andere Dinge konzentrieren. Aber du solltest immer wieder zur Kamera zurückkehren. Weiterlesen

Tipps für den Online-Vortrag (Teil 2)

Vor Publikum zu reden, bedeutet: Kontakt aufzunehmen und zu halten, obwohl die Distanz größer ist als im Alltag. Dies gilt für Präsenzvortrag und Online-Vortrag.
Im Präsenzvortrag bedeutet dies, den gemeinsamen Raum zu füllen – mit der Stimme und mit der Körpersprache. Du sprichst so laut, dass du auch die Menschen in der hintersten Reihe erreichst. Durch deine Haltung und deine Gestik zeigst du, dass du den gesamten Raum wahrnimmst.
Im Online-Vortrag bedeutet es, den eigenen Raum und den Raum der Zuhörenden zu verbinden.

Willkommen in meiner Welt!

Natürlich weißt du nicht, wo sich die einzelnen Personen befinden, zu denen du sprichst. Aber du kennst deinen eigenen Raum und kannst ihn so einrichten, dass sie sich darin eingeladen fühlen. So wie du im Präsenzvortrag den Vortragssaal als gemeinsame Werkstatt nutzt, musst du im Online-Vortrag alles dafür tun, dass die Leute dir in deinem Raum begegnen. Weiterlesen

Denkwürdige Pausen, Teil I: Der Held der Steine denkt

Warum kann Thomas Panke fünf Sekunden lang in die Kamera starren und nachdenken, ohne dass es peinlich wird?

Er hat gerade eine Viertelstunde lang geredet und will noch zehn Minuten länger reden. Er hat ein Thema, das ihm liegt: Wie verdiene ich mit YouTube Geld? – Er hat (unter anderem) zwei YouTube-Kanäle und einer der beiden ist deutlich als Dauerwerbesendung für Systembausteine deklariert. So erklärt er denn, wie er das macht, mit zugeschalteter Werbung, Affiliate marketing und dadurch, dass er liebevoll Produkte vorstellt, die man bei ihm kaufen kann.

Jetzt, bei Minute 15, hat er eigentlich alles aufgezählt und er hält inne. Auf seiner Stirn steht deutlich zu lesen: „Was wollte ich noch sagen?“ Aber es ist ihm nicht peinlich. Er blickt weiter in die Kamera, atmet aus und sagt zuerst mal nichts. Dann sagt er: „T – t – t- t- t – t – t – t – t – t“ und fügt hinzu: „Bleibt mir noch was?“

Dann hat er den Faden gefunden. Weiterlesen

Rhetorik-Training konstruktiv

In der herkömmlichen Rhetorik-Schulung ist die wichtigste Entscheidung längst getroffen: die Entscheidung, dass du öffentlich auftreten wirst. Zur Verfügung stehen einige wenige Rollen, in denen du überwiegend verpflichtet bist, das Publikum auf deine Seite zu ziehen.

Für die meisten von uns produziert dies praxisferne Ideale. Deshalb hier nochmals der Grundsatz der konstruktiven Rhetorik in drei einfachen Schritten.

Die erste Frage: Willst du öffentlich reden?

Öffentlich in diesem praktischen Sinne bedeutet: vor einem Publikum, das mit einer bestimmten Rollenerwartung zuhören wird. (Sie geben dir die Rolle einer Lehrerin, eines Firmensprechers, einer Gemeindepräsidentin usw.)

Die zweite Frage: Welches Redeziel hast du?

Wenn du dich für eine „öffentliche“ Rede entschlossen hast (und in unserem Sinne kann das auch ein Auftritt vor fünf Mitarbeitern in der Werkstatt sein), ist die nächste Frage:

Willst du primär informieren, berichten, belehren, erzählen – also Grundlagen für weitere Erkenntnisse vermitteln?

Oder willst du primär überzeugen – also deine Meinung gegen andere Meinungen vertreten?

(Weitere Redeziele lassen wir dabei außer Acht. Das wären zum Beispiel das Feiern eines Rituals, das Beglückwünschen einer Persönlichkeit usw.)

Die dritte Frage: Wie kommen wir ins Gespräch?

Wenn du eine Überzeugungsrede halten willst, dann bist du bei einem Trainer gut aufgehoben, der verspricht, dir die Geheimnisse von Steve Jobs, Barack Obama, Joschka Fischer, Christoph Blocher oder ähnlichen Helden zu verraten. Sie werden dir Maßstäbe vorsetzen, die für Menschen gelten, die sich ihr Leben lang solche Reden auf den Leib schneidern ließen und die du nie kopieren kannst (falls du das wirklich für erstrebenswert hältst).

Sie werden dir vorgaukeln, dass du lernen sollst, vor den Leuten zu brillieren und sie mit einer geschliffenen Rede auf deine Seite zu ziehen. Viel Glück dabei!

Wenn du aber wie viele andere primär Informationsreden halten musst, dann kannst du viel Ballast abwerfen. Denn dann stehst du nicht mehr vor einer passiven Masse, die dir zujubeln soll, sondern du hast es mit Menschen zu tun, die mitdenken und mitreden sollen.

Deine Rede ist dann nur ein Glied in einer Kette von Reden, ein einzelner, aber wichtiger Beitrag in einem Diskurs, an dem auch andere teilnehmen.

Dein Ansatz ist dann nicht die Überredungskunst, sondern der Dialog.

Jetzt ist die Frage nicht mehr: Wie ziehe ich die Leute auf meine Seite? Sondern: Wie komme ich mit ihnen ins Gespräch?

Vielleicht ist das, was dir die Leute während deiner Rede zurufen, wichtiger, als was du sagst. Vielleicht beginnen die guten Erkenntnisse erst, wenn dein Auftritt zu Ende ist und die Gespräche in kleinen Gruppen weitergehen.

Auf jeden Fall wird das aber deinen Erfolgsdruck mindern. Denn die Leistung werdet ihr gemeinsam erbringen, du und dein Publikum.

Rhetorik-Training ist anders

Fragt mich doch Oliver Schroeder im Interview, ob sich der Rhetorik-Unterricht seit Aristoteles und Co. (384-322 v. Chr.) grundlegend geändert habe. Klar hat er sich.

Aristoteles nahm vieles für selbstverständlich, das wir uns zuerst erarbeiten müssen, zum Beispiel die Tatsache, dass du dich plötzlich vor einem Publikum findest. Aristoteles ist der Theoretiker der Beredsamkeit und fängt da an, wo es darum geht, „ein Argument zu prüfen bzw. zu stützen sowie sich zu verteidigen oder anzuklagen“ (1. Kapitel in der Übersetzung von Franz G. Sieveke).

Der Inhalt kommt erst im zweiten Schritt

In einem heutigen praktischen Rhetorikkurs fange ich nicht mit dem Inhalt an, sondern damit, was es heißt, vor einem Publikum zu reden. Ich wende mich an Menschen, denen das einfache Gespräch im Alltag leichtfällt, die aber einen riesigen Unterschied spüren, wenn sie vor Publikum reden müssen. Weiterlesen

Ist Online-Unterricht weniger wert?

Corona hat die Aus- und Fortbildung vom Hörsaal ins Netz gezwungen. Studierende in den USA fühlen sich dadurch um Teile ihrer horrenden Studiengebühren betrogen, die ihnen mit dem Argument abgeknöpft werden, dass sie von den Lehrkräften persönlich und in kleinen Gruppen unterrichtet werden und Wissenschaft hautnah erleben– ganz abgesehen von den Sport- und Freizeitaktivitäten, die jetzt eingestellt sind.

Jetzt werden laufend Hochschulen von Studierenden verklagt, sie einen Teil ihrer Studiengebühren zurückfordern.

Das alles mag auf Studierende und DozentInnen in Europa exotisch wirken, für die Studiengebühren meist das geringste finanzielle Problem sind.

Aber da ist ein Argument, das aufhorchen lassen muss (und an die Diskussionen im Vorfeld der Abiturs- und Maturitätsprüfungen erinnert): Weiterlesen

Tipps für den Online-Vortrag (Teil I)

Ein Seminar. Du hast es schon Dutzende Male geleitet. Aber jetzt muss es plötzlich online stattfinden. Du hast nur dein Laptop vor dir, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer folgen dir per Handy, Tablet oder PC. Wie gelingt trotzdem ein Dialog? Hier einige Tipps.

1. Präsentiere kurze Einheiten

Reduziere die Zeit, die du für den Vortrag brauchst!

Wenn dein Vortrag einst 30 Minuten gedauert hat, teile ihn in mindestens drei Teile auf.

Vielleicht wurde dein Vortrag immer durch Aktivität der Teilnehmenden ergänzt. Fordere sie auch online zu solchen kreativen Übungen auf und reduziere dabei deinen eigenen Beitrag so stark wie möglich. Deine Aufgabe besteht darin, Theorie zu vermitteln, aus Erfahrungen zu berichten, Beiträge der Teilnehmenden zu kommentieren. Aber sie lernen am meisten durch die Aktivität, zu der du sie aufforderst (und die du danach kommentierst).

2. Freunde dich mit der Kamera an.

Für Blickkontakt mit dem Publikum gilt online noch mehr als sonst: Blickkontakt mit einer einzelnen Person. Diese Person sitzt ganz nah vor dir, und du schaust ihr in die Augen, wenn du den kleinen Kamerapunkt über deinem Monitor ansiehst. Weiterlesen

Menschen, denen das Reden schwer fiel, Teil 6: Du

Viele Menschen berichten über Schwierigkeiten beim Reden, über Angst vor dem Auftritt, über Lampenfieber. Die bisherigen Beiträge sollten zeigen, wie einige von ihnen damit umgegangen sind. Hier eine kurze Zusammenfassung.

Tipps zum Thema Lampenfieber

Es gibt äußerst nützliche Bücher zum Thema Lampenfieber. Lampenfieber von Claudia Spahn und Vom Lampenfieber zur Vorfreude von Irmtraud Tarr sind (neben Erklärungen zur Entstehung von Lampenfieber) voll von guten Übungen, die helfen, mit seinem Körper, seinen Gedanken und seinen Gefühlen anders umzugehen.

Solche Lehrbücher können vorbehaltlos empfohlen werden, auch wenn sie sich vor allem an Menschen in künstlerischen Berufen wenden.

Wir aber haben das Glück, dass wir als Amateure des Redens ein ganz anderes Ziel haben: Weiterlesen

Menschen, denen das Reden schwer fiel, Teil 5: Jan Masaryk, Heinrich Gretler

Jan Masaryk, Diplomat, Außenminister, und in der Erinnerung vieler auch „kosmopolitischer Lebemann“, hielt in seinem Leben eine Unmenge Reden. Er war ein gefragter Redner, und ihm war bewusst: Um seine Ziele zu erreichen, musste er sich immer wieder einem großen Publikum stellen und es informieren – über die Situation der slavischen Völker, über die soziale Lage der Arbeiterschaft, über den Alkoholmissbrauch… Berühmt sind seine Rundfunk-Ansprachen aus dem Londoner Exil während des Zweiten Weltkriegs. Und auch wenn er sich selbst für einen schlechten Lehrer hielt, sprach er während seiner Zeit als Universitätsdozent in vollen Hörsälen.

Masaryk aber sagt von sich (in den Gesprächsbänden, die Karel Čapek herausgegeben hat), er habe eine Scheu vor Menschen:

Ich spreche ungern; so oft ich vortragen und in Versammlungen oder in der Schule reden sollte, immer hatte ich Lampenfieber. Und dennoch, wie viele Reden habe ich gehalten! Auch heute leide ich an Lampenfieber, wenn ich öffentlich auftreten oder eine Rede halten soll.

Und er hat sich trotzdem immer wieder dazu überwunden. Weiterlesen

Menschen, denen das Reden schwer fiel, Teil 5: Greta Thunberg, Konrad Lorenz und andere

Greta Thunberg steht vor einigen hundert Zuhörerinne und Zuhörern, einsam auf einer riesigen Bühne, die auch älteren Rednern Ehrfurcht einflößen würde. Man sieht ihr an, dass sie sich nicht wohl fühlt. Aber sie redet trotzdem. Sie sagt: Ich habe das Asperger-Syndrom, und das bedeutet, dass ich nur spreche, wenn es notwendig ist. Und dann fügt sie hinzu: Jetzt ist es notwendig.

Later on, I was diagnosed with Asperger syndrome, OCD and selective mutism. That basically means I only speak when I think it’s necessary – now is one of those moments.

Sie hält ihre Rede, weil sie überzeugt ist, dass sie gebraucht wird, um die Letzten aufzurütteln, die noch nicht an den Klimawandel glauben.

Das Gegenteil von Dialog

Ihr Blick geht mal hierhin, mal dorthin. Sie vermeidet Blickkontakt, wohl weil das auch etwas ist, das Aspergern schwerfällt. Viele andere haben es leichter, wenn sie eine Person im Publikum finden, der sie in die Augen schauen können. Greta weicht aus und verfolgt ihren Faden, ohne näher hinzusehen.

Dass sie trotzdem erfolgreich ist, bringt einen Rhetorik-Dozenten in Argumentationsnöte, der seit Jahren empfiehlt: Such dir im Publikum ein freundliches Gesicht, zu dem du reden kannst, und alles geht besser. Für Greta geht auf die Weise nichts besser. Deshalb schaut sie lieber nicht hin. Oder besser: Sie lässt ihren Blick über das Publikum schweifen, ohne sich auf Blickkontakt einzulassen. Manchmal hält sie einen Sekundenbruchteil inne. Sie sieht die Leute, so scheint es, aber sie schaut sie nicht an.

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Menschen, denen das Reden schwerfiel, Teil 3: Susan Cain

Susan Cain ist eine bekennende Introvertierte. In ihrer Familie schuf man Gemeinsamkeit, indem sich jeder im Wohnzimmer in eine Ecke kuschelte und ein Buch las. Als sie als Kind zum ersten Mal ins Summer Camp durfte, hoffte sie auf lauter solche Erlebnisse – und wurde bitter enttäuscht. Denn dort – wie im späteren Leben fast überall – ging es darum, ständig ausgelassen und in Bewegung zu sein.

Weil sie fand, die Gesellschaft und die Art, wie man sich zu geben hat, sei von Extravertierten dominiert, schrieb sie 2012 das Buch: Quiet (in der deutschen Übersetzung: Still). Es ist ein gut dokumentiertes Plädoyer gegen die Dominanz der Extravertierten und für eine Aufwertung der Werte, die introvertierte Menschen verkörpern.

In diesem Buch erzählt sie von ihrer Angst vor öffentlichen Auftritten, die sie bis ins Erwachsenenalter begleitet hat. Sie bekämpfte diese Angst in einem spezialisierten New Yorker Kurszentrum. Dort fand sie sich in einer Gruppe von lauter Menschen mit ähnlichen Problemen wieder: Menschen, für die es die Hölle war, sich vor eine Gruppe zu stellen und zu dieser zu reden.

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Menschen, denen das Reden schwerfiel, Teil 2: Marie Curie

1921 war Marie Curie schon die berühmteste Wissenschaftlerin der Welt und noch immer zurückhaltend und unsicher, wenn sie vor anderen Menschen auftreten musste. Sogar ihre Vorlesungen vor einer kleinen Zahl Studierender bereiteten ihr regelmäßig Lampenfieber.

Es war nicht nur ihre Schüchternheit, die sie überwinden musste. Als Frau in einer männerdominierten Wissenschaftswelt wusste sie, dass ihr, wo sie auch auftrat, viele feindlich gesinnt sein würden.

1921 war das Jahr, in dem sie zum ersten Mal in die USA reiste. Man für sie dort Geld gesammelt, um ihre Arbeit zu unterstützen, indem sie ein Gramm des Elements – Radium – erstehen konnte, das sie und Pierre Curie 1898 entdeckt hatten.

Mut zum Dialog

Sie wurde in den USA stürmisch begrüßt und während der von einer Welle der Sympathie getragen. Und als sie von ihrer achtwöchigen Reise zurückkam, hatte sich ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit geändert. Sie nahm von da an mehr öffentliche Aufgaben wahr und bewies, zumindest ein der Darstellung der Autorin Shelley Emling, ein weniger problematisches Verhältnis zu öffentlichen Auftritten.

Laut Emlings biografischer Erzählung hat sie in der Zeit erfahren, dass in ihrem Publikum nicht nur Skeptiker und Gegner saßen, sondern Menschen, die bereit waren, ihre Arbeit zu unterstützen (Emling 2013, xvi).

Zum einen hat dies einen sehr konkreten Hintergrund: In Europa war sie vielen Anfeindungen ausgesetzt, von denen in den USA weniger zu spüren war. Zum anderen lässt es auch ahnen, dass sich ihre Beziehung zu ihrem Publikum veränderte. Sie konzentrierte sich – so würde ich es interpretieren – weniger auf die mögliche Ablehnung, die ihr widerfahren konnte, und mehr auf das Gemeinsame, die Sympathie, die in jedem Auditorium vorhanden war. Eine Rede entsteht in der Zusammenarbeit von Rednerin und Publikum. Je zuversichtlicher man sich das sagt, desto leichter wird man es haben.