Jan Masaryk, Diplomat, Außenminister, und in der Erinnerung vieler auch „kosmopolitischer Lebemann“, hielt in seinem Leben eine Unmenge Reden. Er war ein gefragter Redner, und ihm war bewusst: Um seine Ziele zu erreichen, musste er sich immer wieder einem großen Publikum stellen und es informieren – über die Situation der slavischen Völker, über die soziale Lage der Arbeiterschaft, über den Alkoholmissbrauch… Berühmt sind seine Rundfunk-Ansprachen aus dem Londoner Exil während des Zweiten Weltkriegs. Und auch wenn er sich selbst für einen schlechten Lehrer hielt, sprach er während seiner Zeit als Universitätsdozent in vollen Hörsälen.
Masaryk aber sagt von sich (in den Gesprächsbänden, die Karel Čapek herausgegeben hat), er habe eine Scheu vor Menschen:
Ich spreche ungern; so oft ich vortragen und in Versammlungen oder in der Schule reden sollte, immer hatte ich Lampenfieber. Und dennoch, wie viele Reden habe ich gehalten! Auch heute leide ich an Lampenfieber, wenn ich öffentlich auftreten oder eine Rede halten soll.
Und er hat sich trotzdem immer wieder dazu überwunden.
Zwei Arten des Auftritts
Wie es ihm gelungen ist, erzählt er nicht. (Dazu lernen wir mehr aus den Geschichten von Marie Curie oder Thomas Jefferson). Aber wie er die Sache kommentiert, ist bemerkenswert. Er macht einen deutlichen Unterschied zwischen zwei Arten des öffentlichen Auftritts:
Reden um des Redens willen, das ist leicht, aber über praktische Dinge reden, die getan werden sollen – das ist ganz etwas anderes.
Masaryk unterscheidet also zwischen der reinen Präsentation, bei der der Inhalt in den Hintergrund tritt, und dem informativen Reden, zu dem es einem drängt, weil man nicht über irgendein beliebiges Thema spricht, sondern über Dinge, „die getan werden sollen“:
- Darbietung:
Du übernimmst ein Thema und wählst eine Rolle, die du so lange einübst, bis sie sitzt. - Sich mitteilen:
Du vermittelst dein persönliches Anliegen und trittst als du selbst vor das Publikum.
Sich eine Rolle überzustülpen und ein fremdes Thema zu vertreten, hält er also für leichter, als in eigener Sache zu reden.
Etwas darbieten – oder sich mitteilen?
Meiner Erfahrung nach ist es zwar genau umgekehrt. Aber lassen wir das für einen Moment. Wesentlich ist es, diesen Unterschied klar zu erkennen:
Die Darbietung ist verwandt mit dem Beruf des Schauspielers. Sich in eigener Sache mitzuteilen, ist die Aufgabe dessen, der einen ganz anderen Beruf hat, sich aber gelegentlich vor Publikum äußern muss. Diese Menschen haben ihre Hauptkompetenz (zum Glück) nicht im Reden, sondern in der Sache, die sie vertreten.
Sich mitteilen: ein Beispiel
Eine solche Rednerpersönlichkeit wird vom Reden zum Beispiel so erzählen:
Als in Wien ein Antialkoholkongress abgehalten wurde, improvisierte ich dort eine Rede; die gefiel auch manchen Engländern, so dass ich mit einer Reihe von englischen Professoren in Berührung kam…
Das war Masaryk in jungen Jahren, noch bevor seine Diplomatenkarriere begann. Er wusste, dass er vor dem Publikum etwas Gehaltvolles sagen musste. Er improvisierte. Es gelang ihm so gut, dass sich ihm damit weitere Kontakte ermöglichten. Nicht eine ausgefeilte Rede stand im Mittelpunkt; sondern mit einer unvorbereiteten, aber sachkundigen Stellungnahme gelingt ihm ein weiterer Schritt auf seinem beruflichen Weg.
Lampenfieber hin oder her – wenn die Rede zu Ende ist, geht das (Berufs-)Leben weiter.
Darbietung: ein Beispiel
Ganz anders der Bericht über einen Schauspieler. Über die Theaterlegende Heinrich Gretler berichtet Erwin Parker (in: Mein Schauspielhaus, S. 135-137). Auch Gretler hatte sein Leben lang Lampenfieber. Aber es war das Lampenfieber des Profis, dessen, für den der Auftritt Beruf war, nicht Nebensache. Er konnte sich nicht auf die Hoffnung zurückziehen, dass er sich irgendwie aus der Affäre ziehen würde, sondern:
Wenn Heiri spielte, gab es keine Seitensprünge, keine Ungenauigkeiten, sie verboten sich aus Respekt vor dem Ernst, mit der er diese Welt des Scheins zu einer Welt, wie sie sein könnte, machte.
Parker findet für Gretler (den die Kolleginnen und Kollegen am Schauspielhaus wie kaum einen anderen verehrten) das Bild vom „Kapitän, der sein Leben lang seekrank geblieben ist“:
Seine Seekrankheit war das Lampenfieber, das er jeden Abend aufs neue durchlitten hat, von der Premiere bis zur letzten Vorstellung – und wenn es die hundertste war. Diese Textnot, dieser horror vacui, diese Angst vor dem „Schwarzen Loch“ ist gerade den Schauspielern auferlegt, die das größte Pflichtbewusstsein haben. Sie fühlen sich für das Stück, die Mitspieler und das Publikum verantwortlich. Nie wäre es Heiri eingefallen, ein anderes Textwort zu sprechen, als der Dichter vorgeschrieben hat. Nie hätte er sich angemaßt, zu improvisieren; er wäre sich wie ein Falschspieler vorgekommen. So könnte man füglich sagen: hier ist einer ein Opfer seiner Rechtschaffenheit geworden.
Die Angst, dem Werk, das aufzuführen ist, nicht gerecht zu werden: das gehört zu einem Beruf, bei dem die Redeleistung im Mittelpunkt steht. Ein Patzer, ein Abweichen vom einmal erarbeiteten Textsinn widerspricht seiner Auffassung vom Schauspielberuf.
Dagegen ist der Weg des Sich-Mitteilens aus meiner Erfahrung leichter. (Und damit hätte ich Masaryk widersprochen.) Wer diesen Weg wählt, braucht sich nicht an Maßstäben der Perfektion messen zu lassen. Improvisieren ist erlaubt und hilft, das Publikum wahrzunehmen. Jede Rede, bei der ich meine Sache ins Zentrum stelle, ist der Anfang zu einem Dialog. Und sie wird nicht an Oberflächlichkeiten gemessen, sondern nur daran, wofür ich ohnehin kompetent bin: am Inhalt.