Wenn es kritisch wird, werden sie stumm.

Pilotinnen und Copiloten arbeiten im Team. Wie sie miteinander umgehen, ist für die Sicherheit zentral. In den 1990er-Jahren wurde gerade das zum Thema, als nach Ursachen für Flugzeugabstürze geforscht wurde. Man untersuchte die Tonaufnahmen ihrer Gespräche: Was wurde in den letzten Minuten vor dem Crash im Cockpit gesagt? Und durchgehend ergab sich die Tendenz: Wenn die Situation kritisch wurde, hörten die Piloten auf zu reden. Sie arbeiteten fieberhaft vor sich hin, ließen aber die Person daneben, nicht daran teilhaben. Obwohl sie ja mitarbeitete und ebenso intensiv versuchte, das Unglück zu vermeiden. Daraus wurde eine wichtige Fortbildungsmaßnahme: die Cockpit-Crew dazu zu bringen, in kritischen Situationen weiter zu kommunizieren.

Dass das nicht nur auf Pilotenteams zutrifft, ist leicht zu ahnen. Studien belegen, dass es in einem anderen risikoreichen Arbeitsfeld ähnlich ist: auf den Intensivstationen von Krankenhäusern. Eine Krise tritt ein, und der leitende Arzt tut alles Menschenmögliche, um die Patientin zu retten. Aber er hört auf, den Mitarbeitenden zu sagen, was er tut bzw. was sie tun sollen. Auch das ist eine Art Automatismus, der nur durch Übung verschwindet.

Vom Flugzeug ins Krankenhaus

Stationen für Intensivmedizin gibt es seit den 1950er-Jahren. Seither wurde das Fach entwickelt und perfektioniert. Ein bestimmender Faktor in der Arbeit der IntensivmedizinerInnen ist der Zeitdruck. Und wer unter Zeitdruck arbeitet, überlegt nicht lange, wie mit KollegInnen und Mitarbeitenden am besten zu reden ist. Und dennoch ist die Kommunikation entscheidend dafür, dass die gemeinsame Arbeit im Team funktioniert. Einer von vielen Tipps stammt aus der Praxis großer Fluggesellschaften, die verhindern wollten, dass aus Krisen durch fehlende Kommunikation verheerende Unglücksfälle wurden. Sie nennen das Verfahren, das die PilotInnen einüben, „Flying by voice“. Und genaus das wird heutzutage auch dem medizinischen Personal in Krankenhäusern empfohlen: Sprich weiter, wenn es kritisch wird!

Teamkommunikation

Dies ist ein erster Beitrag zum Thema „Teamkommunikation“. Er ist entstanden als Resultat einer Recherche, die ich für einen Vortrag vor ÄrztInnen und PflegerInnen hielt. Ihr Arbeitsfeld in der Intensivmedizin war für mich neu. Aber Gespräche mit ihnen und die Lektüre von Dutzenden von Forschungsarbeiten zum Thema zeigten mir: Es ist ein faszinierendes Thema. Mit wenig Aufwand kann die Kommunikation in der Intensivstation verbessert werden. Und: Was dort schiefläuft bzw. verbessert werden kann, gilt auch für viele andere Berufsfelder.

Literaturhinweise

BRINDLEY, Peter and REYNOLDS; Stuart F. (2008): Improving verbal communication in critical care medicine. Journal of Critical Care (2011) 26, 155–159.

DENNIS, D., CALHOUN, A., KHANNA, R., KNOTT, C., van HEERDEN, P.V. (eds) (2023): Stories from ICU Doctors. Cham: Springer.

Faktenverleugnung als Interviewtaktik

In Umfragen zeigen in Ostdeutschland mehr Menschen Sympathie für Putin und seine Gewaltherrschaft als im Westen. Das ist der Ausgangspunkt für eine Frage an Bundespräsident Steinmeier. Sie wird gestellt durch Berthold Kohler, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bei deren Kongress „Zwischen den Zeilen“ vom 26. April 2024 (ab Min. 31:40)

Steinmeier hat selbst betont, dass die Freiheitsrechte des Grundgesetzes die Ost- und Westdeutschen gleichermaßen ansprechen. Deshalb ist es nur verständlich, dass er nach einer Erklärung für dieses Ungleichgewicht gefragt wird.

Die Frage

„Man kann da natürlich davon ausgehen“, sagt Kohler, „dass gerade jene, die die Freiheit so lange entbehren mussten, sie besonders zu schätzen wissen.“ Und dann stellt er die einfache Frage:

Warum neigen dann aber offenbar, jedenfalls allen Umfragen zufolge, die Ostdeutschen eher zu einem milderen Urteil oder auch zu eher etwas größerem Verständnis für den Aggressor Putin und seine Despotie und auch zu den Parteien, die sich, die sich zu diesem System hingezogen fühlen als jedenfalls die Menschen im Westen Deutschlands?“

[Genauer Wortlaut am Schluss dieses Textes.]

Es ist eine unangenehme Frage. Aber eine, die sich vielen stellt. Und man vermutet, dass der Bundespräsident sich dazu schon einige Gedanken gemacht hat. Hier seine Antwort:

Ob das nach Köpfen wirklich mehr sind, das lass’ ich mal hintanstehen. In Prozenten mag das so sein, aber ich bin nun wirklich viel, viel, viel im Osten und grade auch in Thüringen und in Sachsen unterwegs gewesen in den letzten Jahren, habe viele schwierige Debatten geführt, grade auch über die Fragen von Krieg und Frieden und wer verantwortlich ist für die – für eine Zuspitzung, politische Zuspitzung, die am Ende zu Angriffskrieg Russlands gegen, gegen die Ukraine geführt hat. Ähm. Ich stelle selten fest, dass ich auf Menschen treffe, die völlig unerreichbar sind für Argumente.

Und schon ist er bei der Erkenntnis, dass viele Menschen mit Argumenten erreichbar seien, dass die Unterstützung der Ukraine „nicht in Frage stehe“ und dass er schon auf der Leipziger Buchmesse zum Thema Grundgesetz gesprochen habe. Damit ist er der Frage wortreich ausgewichen, und hat die Thematik mit waghalsigen syntaktischen Konstruktionen umdefiniert.

Steinmeier-Statistik

Begonnen hat er aber – wie das auch Populisten tun – mit einer Kritik an der Sachinformation.Ich finde: Das hätte man ihm nicht durchgehen lassen sollen: dass er, konfrontiert mit Umfrageresultaten, sagt, in Prozenten möge es so sein, aber

Ob das nach Köpfen wirklich mehr sind, lass’ ich mal hintanstehen.

Was wurde denn in den Umfragen gezählt, wenn nicht Köpfe? – Nasen? Arme und Beine? – Man wäre damit wohl zum selben Resultat gelangt. Ich kann mir nur eines denken: dass die Umfrageinstitute statt der Köpfe die Haare auf den Köpfen gezählt haben. Natürlich  hat sich dadurch eine Schieflage ergeben, weil Glatzköpfe bekanntlich intelligenter sind. Klar, dass dadurch die haarigen Putin-Versteher mehr Gewicht bekommen.

Wie sicher muss sich einer fühlen, dass er sich in einem Interview so aus der Affäre zieht? Und wie wenig Interesse muss er an den Bürgerinnen und Bürgern haben, die auch von ihren demokratischen Repräsentanten ernst genommen werden wollen?

Der Wortlaut:

Frage: Herr Bundespräsident, Sie sagten auch, dass die Freiheitsrechte des Grundgesetzes, das sich nun wahrlich bewährt hat und das wir zu Recht äh feiern, dass diese Freiheitsrechte die Ost- und Westdeutschen gleichermaßen ansprechen würden, und man kann da natürlich davon ausgehen, dass gerade jene, die die Freiheit so lange entbehren mussten, ähm sie besonders zu äh schätzen wissen. Warum neigen dann aber offenbar, jedenfalls allen Umfragen zu dann – zufolge, die Ostdeutschen eher, sage ich: eher zu einem milderen Urteil oder auch zu eher etwas größerem Verständnis für den Aggressor Putin und seine Despotie äh und auch zu den Parteien, die sich, die sich zu diesem äh System hingezogen fühlen als jedenfalls die Menschen im Westen Deutschlands?

Antwort: Ob das nach Köpfen wirklich mehr sind, das lass’ ich mal hintanstehen, ich bin nach Prozenten jedenfalls, in, in, in Prozenten mag das so sein, aber ich bin nun wirklich viel, viel, viel im Osten und grade auch in Thüringen und in Sachsen unterwegs gewesen in den letzten Jahren, habe viele schwierige Debatten geführt, grade auch über die Fragen von Krieg und Frieden und wer verantwortlich ist für die – für eine Zuspitzung, politische Zuspitzung, die am Ende zu Angriffskrieg Russlands gegen, gegen die Ukraine geführt hat. Ähm. Ich stelle selten fest, dass ich auf Menschen treffe, die völlig unerreichbar sind für Argumente. Nicht jeder geht aus dem, aus der Debatte heraus und sagt: Ach so war das, und ja,­– dann können wir wohl nicht anders als äh die Ukraine zu unterstützen. Aber wenn man die Geschichte etwas länger und etwas ausführlicher und nicht im Agenturstil argu, durchargumentiert, sind viele schlicht und einfach äh nach meiner Erfahrung jedenfalls erreichbar und äh. Die Kritik prinzipiell an der von der Bundesregierung und den größten Teilen des Parlaments ja gedeckten und gestützten Unterstützung der Ukraine steht eigentlich auch da nicht in Frage. Wenn Sie auf das Grundgesetz kommen, – ähm, so hab’ ich ja in, in meiner Rede auf der Leipziger Buchmesse das Thema…

 

Einige schöne Sätze

Der Koalitionsausschuss hat 20 Stunden lang getagt bzw. genächtigt. Worum es ging, sagte der Bundeskanzler in diesen Worten:

Wir haben in den Beratungen
sehr sehr gute Fortschritte erzielt,
viele, viele Verständigungen gewonnen
und haben alles dazu beigetragen, dass wir die
wichtigen Festlegungen erarbeiten,
die für die Modernisierung unseres Landes
und den Fortschritt in Deutschland
notwendig sind.

Kommentare müssen her, z.B. im Heute-Journal des ZDF vom 27.3.2023 – auch wenn noch nicht klar ist, was beschlossen wurde. Denn:

Dass wir nicht wissen,
um was wirklich gerungen wird,
ist ein gutes Zeichen.

Hier einige weitere erhellende Sätze und Zauberworte:

Unterschiedliche Differenzen

Die Differenzen sind so unterschiedlich,
dass man offenbar keinen Ausweg
im Moment erkennen kann.

Führungserzählung

Ein Ausweg wäre ja,
über eine Führungserzählung,
beispielsweise,
die der Kanzler intoniert,
Auswege zu finden,
um die Dynamik des Miteinanders,
auf die man sich am Anfang der Koalition
verständigt hat, auch am Ende zu einigen.

 

Bloß keine Einigung

Denn das, was wir nicht mehr haben wollen
als Bürger,
ist ja, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen.

 

Zumutungen zumuten

Und das geht wahrscheinlich
durchaus durch den Weg,
uns Bürgern Zumutungen zuzumuten.

Musik hören, Teil 4

Hören (im Zusammenhang mit Musik) ist – wie erwähnt – im Gegensatz zu Anhören oder Zuhören eine vorwiegend unfreiwillige Tätigkeit, zumindest bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.

Im Jahre 1875 erschien der Teil des Grimmschen Wörterbuchs (Holzmarkt bis Hurre), der das Wort hören in all seinen Verwendungsweisen dokumentierte. Hier hat hören noch vor allem die Bedeutung: „durchs Gehör wahrnehmen (können).“

Zwar gibt es hier das transitive „mit Aufmerksamkeit hören“ – etwa wenn der Psalmist sagt: “Gott, höre mein Gebet!“ Oder das studentische Konsumieren von Vorlesungen: „Er hört eine Vorlesung bei Professor N.“ Aber von der selbständigen Handlung “Musik hören” unserer Tage  (“ich wähle mein persönliches Programm”) ist das weit entfernt. Das Wort „Musik“ kommt im ganzen langen Artikel zum Thema “Hören” nur einmal vor, im Zusammenhang mit den Posaunen von Jericho.

Unfreiwilliges Hören von Musik

Und für die Bewohnerinnen und Bewohner von Jericho war es ein ziemlich unfreiwilliges Hören:

„Und lass sieben Priester sieben Posaunen tragen vor der Lade her, und am siebenten Tage zieht siebenmal um die Stadt und lass die Priester die Posaunen blasen. Und wenn man das Horn bläst und ihr den Schall der Posaune hört, so soll das ganze Volk ein großes Kriegsgeschrei erheben. Dann wird die Stadtmauer einfallen, und das Volk soll hinaufsteigen, ein jeder, wo er gerade steht. (Josua 6, 4-5.)

Die Leute in der belagerten Stadt ertrugen diesen Lärm sieben Tage lang. Dann fiel die Mauer, und alle Männer, Frauen und Kinder wurden umgebracht (außer der Hure Rahab und „dem Haus ihres Vaters und allem, was sie hatte“).

Beschallung als Folter

Das 21. Jahrhundert hat den Ordnungshütern und Armeen dieser Welt Geräte beschert, die es überflüssig machen, sich dem Gegner mit Posaunen zu nähern: long range acoustic devices (Jürg Häusermann (2017): Auditory Media, in: Cotter & Perrin (eds.): The Routledge Handbook of Language and Media, S. 221). Sie transportieren Töne über weite Distanzen und in großer Lautstärke (bis 160 dB – was das Gehör irreparabel schädigen kann). Die übertragenen Frequenzen müssen nicht, aber können musikalischer Natur sein.

Die Royal Navy hat angeblich die schlimmsten Songs von Britney Spears eingesetzt, um Piraten vor der somalischen Küste zu vertreiben.

In Guantanamo und anderswo wurden Häftlinge allein oder in Gruppen mit Rockmusik beschallt, um sie zu verwirren oder zu Geständnissen zu bewegen (die sich allerdings nachträglich auch als falsch erwiesen).

Selbstbeschallung

Und dann sitzen die Soldaten in ihren Camps und beschallen sich selbst. Sie nutzen die gleiche Musik, mit der Häftlinge gefoltert werden, um sich für den Kampf zu motivieren.

Ein Veteran des Irak-Kriegs:

„Sometimes your motivation is down and you’re like, “I don’t want to play soldier today, I don’t want to do this.” But then you hear “The Good, the Bad, and the Ugly” theme song and you’re like, “Fuck yeah, hell yeah, I’ll go out on a mission today.” (Pieslak, Jonathan (2009): Sound Targets. American Soldiers and Music in the Iraq War. Bloomington: Indiana University Press, S. 51.)

Es gibt eine lange Liste von Songs, die verwendet wurden, um Kriegsgefangene zu foltern. Und eine viel längere von Songs, die halfen, sich zum Töten zu motivieren:

I’m going to have to shoot at someone today, so might as well get pumped up for it. So that Eminem song, “Go To Sleep,” when we got to Fallujah was kind of our anthem and before every mission we’d blare that and we’d all scream the lyrics out.” (S. 51)

Musik hören, Teil 3

“Musik hören” zu einer Zeit, als die privaten Grammophone, Pianolas oder Radioempfänger noch nicht zur Verfügung standen: Menschen haben Teil an der Aufführung eines Liedes, eines Marsches, eines Orgelvorspiels… Musikgenuss ein gemeinsames Erlebnis von Vortragenden und Zuhörenden. Und auch wenn es nur eine einzige Person ist, die einer auserwählten anderen etwas vorspielt, so hat es doch mehr von einem Dialog als von einer einseitigen Anhörung.

Nicht nur in der Darbietung, auch in der Diskussion des musikalischen Erlebnisses spiegelt sich die Selbstverständlichkeit, dass Musikgenuss keine einsame Angelegenheit sein kann. Zwar ist Musik manchmal eine Überraschung, für eine Gruppe von Menschen oder einen allein, doch auch da ist sie eher ein unerwartetes Geschenk als eine Berieselung, und vor allem wird sie für so ungewöhnlich empfunden, dass sie ausführlich verarbeitet werden muss. (Man lese die ausführliche Schilderung des Umgangs Wilhelm Meisters mit dem unerwarteten Lied des Harfners, das durch dessen Tür dringt [2. Buch, 13. Kapitel].)

Musik im Wald um 1910

Zwei Waisenkinder, Gundel und Dieter, lernen eine geheimnisvolle Welt kennen: die Welt um Schloss Rabenburg. Ihr Großonkel hat sie dort aufgenommen. Am Silvesternachmittag begleitet er sie zusammen mit Großtante Susanne auf einen Spaziergang durch die verschneite Umgebung. Sie hören die Raben krächzen und einen Specht, der die Tanne “abklopft”. Ansonsten ist das Tal ganz still. Dann aber – ein Ton:

Ein Ton durchdrang dessen Stille, es raschelte und knisterte und auf einmal kam ein Singen durch den Wald, fern und doch deutlich vernehmbar:
»O Täler weit, o Höhen,
O schöner, weißer Wald
Du meiner Lust und Wehen,
Andächtiger Aufenthalt.«
Eine schöne klare Männerstimme war es, die sang; wie ein Gebet so feierlich und andächtig tönte das Lied. Die vier Wanderer waren stehengeblieben, um keinen Ton zu verlieren, von dem Sänger selbst war nichts zu sehen, man hörte auch kein Rascheln und Schreiten mehr. Selbst die Raben waren verstummt, es war, als lausche der ganze Wald dem Liede. (Josephine Siebe: Die Schlosskinder auf Rabenburg, 12. Kapitel.)

Ein Lied ist das Zeichen, dass noch ein Mensch im einsamen Tal wandert. Es ist das wehmütig-besinnliche Lied von Eichendorff, das den Sänger ganz offenbar so sehr ergreift, dass er mitten drin abbricht. Die Wanderer werweißen, wer der Sänger wohl sei. “Ein verlaufener Wandervogel wohl”, meint der Großonkel. Aber seine Frau weiß es besser. Sie erkennt: “Das war kein lustiger Wandervogel, das war einer, der in Trauer durch den Wald ging.”

Die Autorin Josephine Siebe lässt diese Geschichte am Jahresende 1913 spielen. Ihren Spaziergängern geht es ähnlich wie vielen deutschen Romanfiguren vor ihnen: Immer wieder, besonders wenn sie durch die Wälder streiften, sind sie auf einsame Wanderer gestoßen, die für sich ein Lied singen und dem Lauschenden unwillentlich etwas von sich verraten. Es ist oft der erste Kontakt mit einem Menschen, dem sie später wieder begegnen, meist auch einer Botschaft, die für sie eine tiefe Bedeutung gewinnt.

Das Lied als ein Anzeichen dafür, dass ein Mensch in der Nähe ist, eine Botschaft über dessen Gemütszustand, ein Leitmotiv für die weiteren Erlebnisse der Zuhörerin oder des Zuhörers…

Musik im Wald um 1980

Einige Jahrzehnte später ist das mit dem Singen nicht mehr so sexy. Die Wanderer stoßen nicht mehr auf einsame Sänger im Walde. Sie hören Musik, voll orchestriert und alles andere als live:

Es war einfach ein herrlicher Frühlingsspaziergang, bis man plötzlich plärrende Tanzmusik vernahm…

So beschreibt Konrad Lorenz ein Erlebnis im Wald am Ende des 20. Jahrhunderts. Es ist nicht mehr Gesang, mit dem sich ein Wanderer bemerkbar macht, sondern Musik, und zwar reproduzierte Musik ganzer Orchester, und sie wird als Lärm empfunden:

Über den Waldweg, den Hügelkamm entlang, kaum ein Junge auf einem Fahrrad, in dessen Gepäckträger ein lärmendes Kofferradio klemmte. Meine Frau meinte: “Der hat Angst, er könnte die Vögel singen hören.” (Konrad Lorenz/Kurt L. Mündl (1984): Noah würde Segel setzen. Vor uns die Sintflut. Seewald Verlag, Stuttgart und Herford, S. 23)

Vielleicht hätten die Lorenzens anders reagiert, wenn der Junge singend vorbeigefahren wäre. Aber der Junge ist ein Kind der 1980er und singt nicht selbst. Er lässt singen. Präziser gesagt: Die Organisation, mit der er über sein Transistorgerät in Verbindung getreten ist, die öffentlich-rechtliche Rundfunkgesellschaft, hat ein Programm zusammengestellt, das aus von Unternehmen der Plattenindustrie produzierten Aufnahmen singender und spielender Menschen besteht. Es war also ein Produzent in einem Studio, der im Auftrag einer komplexen Organisation hatte singen lassen.

Aber das Gerät, das dieses Programm einzufangen vermag, ist tragbar und robust und geht nicht einmal kaputt, wenn ein Metallbügel es mittels starker Federn auf ein Fahrradgestellt presst. Der Begriff „Kofferradio“ wird zur Zeit dieser Begegnung längst nicht mehr verwendet. Es ist Anfang der 1980er-Jahre, das Lied ist vielleicht ein Produkt der Neuen Deutschen Welle wie Major Tom von Peter Schilling, auf dem WEA-Label der Warner Music Group.

Herr und Frau Lorenz haben nicht die geringste Lust, den radiohörenden Radfahrer kennenzulernen und sich ihm „in tiefem, warmem Mitleid“ zuzuwenden. Er ist für sie vielmehr Anlass zu einer kunstkritischen Betrachtung:

Es gibt allzu viele Menschen, die infolge einer falschen ästhetischen Erziehung Popmusik, grelle Farben und manche fragwürdigen Kunstformen für die höchsten Dinge der Schöpfung halten.

Eigentlich sorgen sie sich um den bedrohten Wald. Das Wort „Waldsterben“ ist in aller Munde, und im selben Text wird erklärt, was sich alles verändert, wenn zu viele Bäume gefällt werden.

Liebe zum Wald und ein plärrendes Kofferradio passen aber nicht zusammen. Düster sind die Ahnungen des Naturforschers, der den Verdacht hegt, dass für die Kofferradio-Jugend „die Harmonie der Natur nicht anziehend“ ist.

Doch habe ich manchmal das dunkle Gefühl, dass sie sich eigentlich irgendwie doch der Minderwertigkeit ihrer eigenen Ideale bewusst sind…

Der Junge aber tritt in die Pedale und saust am Verhaltensforscher und seiner Gattin vorbei. Er ist in Bewegung, genießt den Fahrtwind und das Gefühl, das der Song zu verstärken scheint: „Völlig losgelöst…“

Mitbekommen, wie ein anderer Musik hört: das kann heutzutage als Belästigung aufgefasst werden. Die Voraussetzung dazu ist, dass die modernen Geräte privates Musikhören ermöglichen.

Das medizinische Kreuzworträtsel Nummer 23

Zum Herunterladen und Ausdrucken:

https://rhet.de/wp-content/uploads/2022/11/Das-medizinische-Kreuzworträtsel-Nummer-23.pdf

Waagerecht

1          Wenn ein Nerv sich geteilt hat.
6          Die Herzfrequenz im Takt halten.
11        Die letzte im Alphabet der Big Three (universities).
12        In the 19th century (according to historian C. J. Bittel), “an important symbol for women physicians who wanted to prove that they maintained their femininity while surrounded by men”.

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Das medizinische Kreuzworträtsel Nummer 21

Als PDF auf drei Seiten zum Download: Das medizinische Kreuzworträtsel Nummer 21

Waagerecht

1          Wenn Messwerte abweichen. Wenn Strahlungen ihre Richtung ändern. Wenn Entzündungen sich weiterverbreiten.
2          Säufer, salopp.
14        Gift von Pflanzen, Tieren, Pilzen.
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Musik hören, Teil 2

Um die Jahrhundertwende war Peter Altenberg „während 23 Saisonen“ zur Sommerfrische in Gmunden. Der Uhrmacher hatte in seinem Laden ein Grammophon, und einer der schönsten Texte, die Altenberg geschrieben hat, dreht sich darum, dass man beim Uhrmacher für ein paar Groschen ein Musikstück hören konnte. Nein, er dreht sich natürlich nicht darum, die Geschichte setzt es stillschweigend voraus. Er brauchte keine Erklärung, dass das in Gmunden die beste Möglichkeit war, ein Musikstück eigener Wahl zu hören.

Es ist eine wehmütige Geschichte, in der sich ein Kunde und eine Kundin um ein paar Fußbreit näherkommen, weil sie das Stück gemeinsam hören. Dann aber fanden sich je länger je häufiger auch Wirtschaften und Vereinslokale mit Grammophonen und Plattensammlungen – und in begüterten Heimen, so dass sich  der Wunsch entwickeln konnte, ein Konzert privat zu hören, in den eigenen vier Wänden, so wie die Adeligen in früheren Zeiten. Liebespaare drehten sich in ihrer Wohnung nach Grammophonmusik im Tanz. Und das Angebot des Gmundener Uhrmachers war überholt. „Der Herbst kam, und die Esplanade wurde licht von gelben spärlichen Blättern,” schreibt Altenberg 1908. „Da wurde denn auch das Grammophon im Uhrmacherladen eingestellt, weil es sich nicht mehr rentierte.”

Sechzig Jahre später

Zwei junge Leute treffen sich vor der Jukebox. Jeder hat eine Münze in der Hand und will der erste sein. Das ist die rasantere und plattere Version der Geschichte aus dem Jahr 1965. Die bereits arrivierte Schlagersängerin Sheila gibt sie mit dem Nachwuchstalent Akim in einem Duett wieder. Es kommt zu einem Disput, in dem in dem jeder sagt: „Ich bin dran“ – bis es sich so wunderbar fügt, dass sich beide denselben Titel gewünscht haben. Es ist der Beginn einer langen Freundschaft.

Gemeinsames Musikhören ist 1908 wie 1965 an die Rillen einer harten, schwarzen Scheibe gebunden. Wer sie selber zu Hause hat, muss sie anfassen, aus der Hülle ziehen und auf den Teller legen. Der Uhrmacher überlässt das aber nicht seinen Kunden, und der Apparat in der Bar verhindert ebenfalls, dass die Kundschaft die Platten zerkratzen könnte.

Wer ein bestimmtes Lied hören will, ohne dafür Geld auszugeben, hat über Jahrzehnte nur die Wahl, dem Radio zu schreiben und zu hoffen, dass sein Wunsch in der Wunschkonzert-Sendung berücksichtigt wird. Wenn er Glück hat, hört er es am Montagabend über den Äther. Ein elektronisches Medium ist dazwischengeschaltet mit einer Redaktion, die die Macht hat, Wünsche zu erfüllen oder auszusortieren.

Das lästige Grammophon

Dass das das Musikhören privatisiert wird, zeigt sich an den Beschwerden über das Grammophon. Es wird zunächst für öffentliche Veranstaltungen genutzt und bewundert. Aber je mehr Leute sich eines leisten können, desto stärker wird es als Belästigung empfunden, wenn seine Laute nach außen dringen.

George Robert Sims (1906):

»Mabel!« rief Kaudel entsetzt. »Du wirst doch nicht auf die Idee gekommen sein, ein Grammophon zu kaufen?«
»Doch, und zwar ein herrliches. Und fünfzig Walzen habe ich gekauft. Warte nur einen Augenblick — jetzt sollst du etwas Lustiges hören!«
Kaudel setzte sich auf einen Vorplatzstuhl und starrte entsetzt aufs Barometer. Ein Grammophon! Das Haus, worin er arbeiten und sein Brot verdienen mußte, überflutet von Musik! (Die junge Frau Kaudel, Kap. 15)

Otto Julius Bierbaum (1908):

„Der Kinematographenunfug in Florenz ist wirklich abscheulich, denn er geht mit einem greulichen Mißbrauch von Grammophonen einher, die ganze Stadtviertel mit ihrem blechheiseren Gegröle erfüllen.“ (Blätter aus Fiesole, Kap. 3)

Franz Kafka (1914/15):

„Eben begann ein in besseren Stadtvierteln ausgedientes Grammophon mörderisch zu spielen.“ („Der Prozess“)

Otto Ernst (1918):

„… ein allerflüchtigster Blick durch die Türspalten mag genügen, um vor allen Dingen festzustellen, daß im Wohnzimmer ein Grammophon steht, mit einem Schalltrichter so groß wie die Posaune des jüngsten Gerichtes. Die Auswürfe dieses Apparats, die vorwiegend bei offenen Fenstern produziert werden, sind denn auch seit Jahren im ganzen Regierungsbezirk belieb.“ (August Gutbier oder Die sieben Weisen im Franziskanerbräu, Kap. 2)

Felix Salten (1928):

„Hie und da kreischte ein heiseres Grammophon und wirkte wie eine Insulte.“ (Martin Overbeck, Kap. 1)

Franz Werfel (1939):

„Das Grammophon, das ein paar Minuten lang Atem geschöpft hatte, heulte von neuem los.“ (Der veruntreute Himmel, Kap. 3)

 

Musik hören, Teil 1

Paula ruft ihre Freundin Emma an und fragt: „Was machst du gerade?“ Emma: „Ich höre Musik.“ Sie lebt, sagen wir, in den 1970er-Jahren und hat sich einen Plattenspieler gekauft und eine LP aufgelegt. Sie hört Musik. Das ist nicht erstaunlich, und Paula wechselt bald das Thema.

Aber stell dir vor, es ist hundert Jahre früher, Mitte des 19. Jahrhunderts, und ein junges Mädchen schreibt – in Ermangelung eines Telefons – ihrer Brieffreundin: „Ich sitze zu Hause und höre Musik.“

Dass sie sich ein Gerät beschafft hat, das sie in ihrem Stübchen aufstellen kann, um Musik erklingen zu lassen, ist höchst unwahrscheinlich. Am ehesten lässt sich denken, dass sich in der Nähe ein Blasorchester aufgestellt hat und sie dessen Klänge durch das geöffnete Fenster wahrnimmt.

Den Ausdruck „Musik hören“ im heutigen, aktiven Sinn gibt es zu der Zeit nicht. „Ich höre dies oder das“ bedeutet noch bis ins 19. Jahrhundert in erster Linie: Es dringt an mein Ohr, ohne dass ich es veranlasst hätte. „Ich höre Musik“ ist auf der gleichen Ebene wie: „Ich höre Grillengezirpe.“

Psychisch krank oder modern?

„Ich höre Musik“, sagte auch der Engländer, der in den frühen 1920er-Jahren in die Irrenanstalt eingeliefert wurde. Denn er hörte nicht nur Musik, sondern auch Stimmen, die es nur in seinem Kopf zu geben schien:

„Der Fall schien anfangs ein sehr durchschnittlicher zu sein, bis eines Tages der Anstaltsarzt durch einen Zufall hinter einen merkwürdigen Zusammenhang kam. Er saß im Hospitalgarten, hatte die Radiohörer umgeschnallt (man kannte damals noch keine Lautsprecher) und hörte eine musikalische Übertragung an. Dabei fiel ihm auf, dass dieser Patient jedesmal, wenn er vorbeispazierte, die Melodie summte, die er gerade hörte. Das machte ihn stutzig. Er prüfte den Fall eingehender und stellte tatsächlich fest, dass der Patient alle Übertragungen eines Londoner Senders auffing. Sein Gehirn reagierte also auf eine bestimmte Wellenlänge als Empfangsstation, versagte aber bei allen andern Sendern.“ (H[ildegard].J[ohanna]. Kaeser (1939): Der Zauberspiegel. Ein Buch für wissbegierige Knaben und Mädchen. Zürich und Leipzig: Orell Füssli S. 97)

Privat statt öffentlich

Der Patient hört unfreiwillig Musik, der Arzt ist schon ein aktiver Musikhörer. Zu der Zeit gab es nicht nur das Radio, sondern auch mechanische Musikinstrumente und das Grammophon. Sie wurden in den ersten Jahrzehnen des 20. Jahrhunderts allmählich privatisiert, und seither heißt „Musik hören“ vor allem: für sich allein eine Darbietung organisieren und bei irgendeiner Tätigkeit konsumieren. Und seit es Streaming-Dienste gibt, ist das “eigene” Programm nicht einmal mehr vom Kauf teurer Tonträger abhängig. Ich höre meine persönliche Musik – in der Häufigkeit und Reihenfolge, die mir behagt, oder die mir ein Algorithmus meinen Bedürfnissen entsprechend serviert.

Das medizinische Kreuzworträtsel Nummer 20

Als PDF auf drei Seiten zum Download: Das medizinische Kreuzworträtsel Nummer 20.

Waagerecht

1          Davos für Hans Castorp. Thale für Theodor Fontane.
9          Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren.
13        Venae cavae – rechter Vorhof – rechte Herzkammer – Arteria pulmonalis – Lunge – linker Vorhof – linke Herzkammer – Aorta…
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Das medizinische Kreuzworträtsel Nummer 18

Zum Download als PDF: Das medizinische Kreuzworträtsel Nummer 18

Waagerecht

1          Enthält z.B. Verbandmaterial, Fieberzäpfchen, Hustensirup, abgelaufene Medikamente.
11        Trotz Verhütung schwanger werden? – Es gibt eine Zahl für die Wahrscheinlichkeit jeder Methode.
13        Unternehmensform mit vielen Vorteilen – nur nicht für ÄrztInnen.
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Das medizinische Kreuzworträtsel Nummer 17

Als PDF zum Download: Das medizinische Kreuzworträtsel Nummer 17

Waagerecht

1          Helmut war Ophthalmologe in Wien. Elisabeth trinkt es bei Durchfall.
5          Häufigster Fall von Demyelinisierung.
7          Cholinesterase-Hemmer: Erstes zugelassenes Medikament gegen Alzheimer – längst wieder vom Markt genommen.
13        Vorübergehende Bewusstlosigkeit.
16        Dänische Gemütlichkeit.
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Einige Zitate zum Thema Pressefreiheit

Wer die “Novaja Gazeta” im Internet lesen will, stößt auf die folgende Mitteilung der Redaktion vom 28. März 2022:

Wir stellen die Arbeit ein.
Wir haben eine weitere Warnung von der Kommunikationsaufsichtsbehörde  (Roskomnadzor) bekommen. Infolgedessen stellen wir die Ausgabe der Zeitung auf der Website, in den sozialen Medien und in Papierform ein – bis zur Beendigung der “speziellen Operation auf dem Territorium der Ukraine”.
Mit freundlichen Grüßen
Die Redaktion der “Novaja Gazeta” (*)

Novaja Gazeta bietet auf ihrer Homepage die Möglichkeit, die eigene E-Mail zu hinterlassen, um allenfalls auf andere Art in Kontakt zu bleiben.

Novaja Gazeta gehört zu einer Reihe von Dutzenden von Informationsmedien, die verstummt sind (die meisten, weil sie vom ROSKOMNADZOR blockiert wurden). Wer eine dieser Websites aufsucht, findet in großen Lettern die Meldung:

Die betreffende Mitteilung (bzw. das Material) wurde verfasst und (oder) verbreitet durch ein ausländisches Massenmedium, das die Funktion eines ausländischen Agenten ausübt, und (oder) durch eine russische juristische Person, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausübt. (**)

Es ist die Pflicht des betroffenen Mediums, diesen Text über jedem Artikel zu platzieren, wie das Nachrichtenorgan Mediazona erklärt. Nicht nur das Medienunternehmen als jurstische Person ist als “ausländischer Agent” gebrandmarkt, sondern auch namentlich der Chefredakteur und der Herausgeber als natürliche Personen.

Ich wünschte, ich könnte dagegen sagen, dass ich in einem Land lebe, in dem es nicht zu Zensur und Abschalten unerwünschter Medien kommt, auch wenn diese Lügen und Kriegspropaganda verbreiten. Die Kommissionspräsidentin der EU hat aber schon am 27. Februar 2022 dafür gesorgt, dass wir EU-Bürger*innen davor bewahrt werden, in derartigen Medien zu recherchieren:

… werden wir in einem weiteren beispiellosen Schritt die Medienmaschine des Kreml in der EU verbieten. Die staatlichen Medien Russia Today und Sputnik sowie ihre Tochtergesellschaften werden nicht mehr in der Lage sein, ihre Lügen zu verbreiten, um Putins Krieg zu rechtfertigen und unsere Union zu spalten. Daher entwickeln wir Instrumente, um ihre toxischen und schädlichen Desinformation in Europa zu verbieten.

Der Schritt ist wahrlich beispiellos – außer man sucht die Beispiele woanders: in Russland, in China, in der deutschen Geschichte…


(*)
Мы приостанавливаем работу
Заявление редакции «Новой газеты»
Мы получили еще одно предупреждение Роскомнадзора.
После этого мы приостанавливаем выпуск газеты на сайте, в сетях и на бумаге — до окончания «специальной операции на территории Украины».
С уважением, редакция «Новой газеты»

(**)
ДАННОЕ СООБЩЕНИЕ (МАТЕРИАЛ) СОЗДАНО И (ИЛИ) РАСПРОСТРАНЕНО ИНОСТРАННЫМ СРЕДСТВОМ МАССОВОЙ ИНФОРМАЦИИ, ВЫПОЛНЯЮЩИМ ФУНКЦИИ ИНОСТРАННОГО АГЕНТА, И (ИЛИ) РОССИЙСКИМ ЮРИДИЧЕСКИМ ЛИЦОМ, ВЫПОЛНЯЮЩИМ ФУНКЦИИ ИНОСТРАННОГО АГЕНТА.

Protest in der russischen Tagesschau

Protest einer Mitarbeiterin im "1. Kanal", 14. März 2022

14. März 2022: Eine Mitarbeiterin protestiert während der Nachrichtensendung im “1. Kanal” des russischen Fernsehens. Vor ihr die Moderatorin Ekaterina Andreeva.

Text auf dem Plakat: NO WAR – BEENDIGT DEN KRIEG – GLAUBT NICHT DER PROPAGANDA – HIER LÜGT MAN EUCH AN – RUSSIANS AGAINST WAR

Ausschnitte aus der Sendung sind auf YouTube zu finden.

Aufschlussreich ist, wie das Bild präsentiert wird, wenn man sich an die Zensurvorschriften der russischen Regierung halten muss. Die Novaja Gazeta (die auch immer wieder darauf hinweist, dass gewisse Texte entfernt werden mussten) bringt das Bild als “Foto des Tages” so:

Gestrichen sind alle Sätze, die das Wort “Krieg” enthalten, zudem die Behauptung der Lüge. Es bleibt der Aufruf: “Glaubt nicht der Propaganda!” auf dem Plakat. Begründung: “Dessen vollständigen Inhalt wiederzugeben, verbieten uns Roskomnadzor* (Роскомнадзор) und das Strafgesetzbuch.

Die Frau (nach unbestätigten Berichten Marina Ovsjannikova), die die Sendung auf diese Weise ergänzt hat, wurde laut Medienberichten sofort festgenommen.


* Roskomnadzor ist das Kurzwort für Federal’naja služba po nadzoru v sfere svjazi, informacionnych technologij i massovych kommunikacij (Федеральная служба по надзору в сфере связи, информационных технологий и массовых коммуникаций).
Zu Deutsch: “Föderaler Dienst für die Aufsicht im Bereich der Kommunikation, Informationstechnologie und Massenkommunikation.”

 

 

 

Kriegsnachrichten in der skandinavischen Presse für ein russisches Publikum

Drei große skandinavische Zeitungen publizieren Artikel auf Russisch. Es sind Dagens Nyheter aus Schweden, Helsingin Sanomat aus Finnland und Politiken aus Dänemark.

Народ России имеет право знать –
The Russian People have the Right to Know

schreiben die Chefredakteure in einer gemeinsamen Erklärung. Sie publizieren Artikel, die auf ihren Websites auch in der eigenen Sprache und auf Englisch zu finden sind. Wohl um die AutorInnen zu schützen, sind sie oft nicht mit Namen gezeichnet. Einige Namen wirken wie Pseudonyme.

Helsingin Sanomat berichtet aus der russischen Grenzregion: In der Nähe von Vyborg (Viipuri) liegt eine Siedlung, die eine 4000 Mann starke Brigade der mechanisierten Infanterie beherbergt. Laufend treffen dort jetzt Nachrichten ein, dass Angehörige verwundet oder gefallen sind.

„Sie wurden zu Manövern nach Belgorod geschickt,“

erzählt die Frau eines Offiziers. Belgorod ist in Russland, 80 km vom ukrainischen Charkiv entfernt.

Dagens Nyheter bringt Bildreportagen aus Žitomir, aus einem Luftschutzkeller, aus einer zerbombten Schule. Die Lehrerin, die durch die Schule begleitet wird, geht mal hierhin, mal dahin; Glassplitter knirschen unter ihren Schuhen. Am Schluss hält es sie da nicht mehr: “Ich muss raus und meine Klasse sehen.”

Eine Analyse in Dagens Nyheter zeigt die Diskrepanz auf zwischen dem ursprünglichen Kriegsplan (eine dreitägige Operation) und den Ereignissen, wie sie sich in bis dahin 9 Tagen entwickelt haben:

Experten: Die russische Invasion ist ein schlecht ausgedachter Plan.

Politiken zitiert eine Aktivistin aus Moskau, die sich verfolgt fühlt, wenn sie auf den Straßen demonstriert, und dennoch nicht bereit ist zu schweigen. Und die Zeitung publiziert auch ihren „Aufruf ans russische Volk“, in dem auf Russisch erklärt wird, dass Putin lügt, und gleichzeitig, dass mit den Sanktionen nicht die Menschen, sondern die Kriegsmaschinerie getroffen werden soll.

Wir sagen nein zu Putins blutiger Aggression. Wir sagen ja zum russischen Volk, das Putin und seine mörderische und despotische Autokratie nicht verdient hat.

Letzteres wird in Russland wohl weniger benötigt als die informativen Reportagen und Berichte. Ich erinnere mich daran, wie russische Systemgegner in der Sowjetzeit westliche Radiosendungen kommentiert haben. Was nach antikommunistischer Propaganda klang, interessierte sie weniger. Dankbar waren sie für Nachrichten mit Informationen, zu denen sie sonst keinen Zugang hatten.

Die russischsprachigen Texte wirken aber mindestens wie ein Symbol: Wir unterstützen die russischen Journalistinnen und Journalisten, die strafrechtlich verfolgt werden können, wenn sie versuchen, die Wahrheit zu berichten.

Für westliche Leserinnen und Leser wird es sich immer lohnen, auch Websites russischer Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, etwa Novaja Gazeta, die sich noch um eine alternative Berichterstattung bemühen.

In der Aktion koopiereren Zeitungen eines NATO-Staates und zweier bisher neutraler Staaten, die ihre Beziehungen zur NATO diskutieren. In Finnland spricht sich in Umfragen von Helsingin Sanomat ungefähr eine Hälfte der Befragten für eine NATO-Mitgliedschaft aus (ähnlich in Schweden, wo die Regierung zumindest “die Tür zur NATO nicht zumacht”). Allerdings schwanken die Zahlen seit dem Beginn des Krieges. Die Regierung aber will das Parlament in eine Umgestaltung der Außenpolitik einbinden. Und das unter scharfer Beoachtung durch den großen Bruder, mit dem Finnland 1340 km Landesgrenze teilt. (“Die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die NATO erfordert Gegenmaßnahmen [ответные шаги] von Russland” heißt es dort nicht besonders freundlich.)