Kriegsnachrichten in der skandinavischen Presse für ein russisches Publikum

Drei große skandinavische Zeitungen publizieren Artikel auf Russisch. Es sind Dagens Nyheter aus Schweden, Helsingin Sanomat aus Finnland und Politiken aus Dänemark.

Народ России имеет право знать –
The Russian People have the Right to Know

schreiben die Chefredakteure in einer gemeinsamen Erklärung. Sie publizieren Artikel, die auf ihren Websites auch in der eigenen Sprache und auf Englisch zu finden sind. Wohl um die AutorInnen zu schützen, sind sie oft nicht mit Namen gezeichnet. Einige Namen wirken wie Pseudonyme.

Helsingin Sanomat berichtet aus der russischen Grenzregion: In der Nähe von Vyborg (Viipuri) liegt eine Siedlung, die eine 4000 Mann starke Brigade der mechanisierten Infanterie beherbergt. Laufend treffen dort jetzt Nachrichten ein, dass Angehörige verwundet oder gefallen sind.

„Sie wurden zu Manövern nach Belgorod geschickt,“

erzählt die Frau eines Offiziers. Belgorod ist in Russland, 80 km vom ukrainischen Charkiv entfernt.

Dagens Nyheter bringt Bildreportagen aus Žitomir, aus einem Luftschutzkeller, aus einer zerbombten Schule. Die Lehrerin, die durch die Schule begleitet wird, geht mal hierhin, mal dahin; Glassplitter knirschen unter ihren Schuhen. Am Schluss hält es sie da nicht mehr: “Ich muss raus und meine Klasse sehen.”

Eine Analyse in Dagens Nyheter zeigt die Diskrepanz auf zwischen dem ursprünglichen Kriegsplan (eine dreitägige Operation) und den Ereignissen, wie sie sich in bis dahin 9 Tagen entwickelt haben:

Experten: Die russische Invasion ist ein schlecht ausgedachter Plan.

Politiken zitiert eine Aktivistin aus Moskau, die sich verfolgt fühlt, wenn sie auf den Straßen demonstriert, und dennoch nicht bereit ist zu schweigen. Und die Zeitung publiziert auch ihren „Aufruf ans russische Volk“, in dem auf Russisch erklärt wird, dass Putin lügt, und gleichzeitig, dass mit den Sanktionen nicht die Menschen, sondern die Kriegsmaschinerie getroffen werden soll.

Wir sagen nein zu Putins blutiger Aggression. Wir sagen ja zum russischen Volk, das Putin und seine mörderische und despotische Autokratie nicht verdient hat.

Letzteres wird in Russland wohl weniger benötigt als die informativen Reportagen und Berichte. Ich erinnere mich daran, wie russische Systemgegner in der Sowjetzeit westliche Radiosendungen kommentiert haben. Was nach antikommunistischer Propaganda klang, interessierte sie weniger. Dankbar waren sie für Nachrichten mit Informationen, zu denen sie sonst keinen Zugang hatten.

Die russischsprachigen Texte wirken aber mindestens wie ein Symbol: Wir unterstützen die russischen Journalistinnen und Journalisten, die strafrechtlich verfolgt werden können, wenn sie versuchen, die Wahrheit zu berichten.

Für westliche Leserinnen und Leser wird es sich immer lohnen, auch Websites russischer Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, etwa Novaja Gazeta, die sich noch um eine alternative Berichterstattung bemühen.

In der Aktion koopiereren Zeitungen eines NATO-Staates und zweier bisher neutraler Staaten, die ihre Beziehungen zur NATO diskutieren. In Finnland spricht sich in Umfragen von Helsingin Sanomat ungefähr eine Hälfte der Befragten für eine NATO-Mitgliedschaft aus (ähnlich in Schweden, wo die Regierung zumindest “die Tür zur NATO nicht zumacht”). Allerdings schwanken die Zahlen seit dem Beginn des Krieges. Die Regierung aber will das Parlament in eine Umgestaltung der Außenpolitik einbinden. Und das unter scharfer Beoachtung durch den großen Bruder, mit dem Finnland 1340 km Landesgrenze teilt. (“Die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die NATO erfordert Gegenmaßnahmen [ответные шаги] von Russland” heißt es dort nicht besonders freundlich.)

 

Der Professor lacht

Das Magazin Focus schreibt über meinen Wohnort und darüber, wie hier mit Corona umgegangen wird. Tübingen ist ein Krähwinkel, sagte mein belesener Freund Piero schon vor dreißig Jahren, und deshalb gehört dazu auch diese heitere Szene:

Aus einem alten Fachwerkgebäude, nicht weit vom pittoresken Tübinger Marktplatz, kommt ein Mann mit Hund. Jürg Häusermann ist ehemaliger Professor, die Universität ist in der Stadt omnipräsent. Der 69-Jährige wirkt entspannt, Maske trägt er nur in der unmittelbaren Nähe von anderen Menschen. Er besitzt etwas, um das ihn manche beneiden: Antikörper gegen Covid-19. […] Am Zelt für den Schnelltest läuft er vorbei, er braucht ihn nicht. “Tübinger Modell”? Der Professor lacht. (Focus 52/2020, S. 41.)

Der Professor lacht. Er tut das scheinbar als Kommentar zu den Tübinger Anstrengungen in der Pandemie-Bekämpfung. Das wirkt naiv und egoistisch, und wenn ich dieser Professor wäre, würde ich mich schämen. Dummerweise bin ich aber dieser Professor.

Nur ist die Szene nie passiert. Weiterlesen

Aber bedeutet denn Journalismus nicht, Geschichten zu erzählen?

Die Journalistin Rukmini Callimachi von der New York Times interviewt einen jungen Kanadier, der behauptet, als Kämpfer beim IS gedient und Menschen umgebracht zu haben. In ihrem vielgefeierten Podcast Caliphate erzählt gekonnt über die Abenteuer und Verbrechen – bis über die Authentizität ihrer Quelle Zweifel aufkommen und sich die New York Times mit einem peinlichen Fälscher-Problem im eigenen Haus konfrontiert sieht.

Der Journalist, der mich um ein Interview anfragt, hat die Idee, dass das Ganze mit dem seit längerem grassierenden Storytelling-Hype zu tun hat. Die Redaktionen sind so sehr auf gute Geschichten aus, dass sie gegenüber der Nachrecherche nachlässig werden.

Da rennt er bei mir offene Türen ein. Ja, sage ich. Es ist ein Riesenproblem, dass die Medienhäuser ihren Redaktionen Storytelling verordnen und es über die gründliche Recherche stellen.

Aber dann sagt eine Kollegin: Journalismus bedeutet doch, Geschichten zu erzählen.

Ja. Erzählen zu können, macht den Journalismus lebendiger. Aber wer Storytelling sagt, hebt das Erzählen über alle anderen journalistischen Fähigkeiten hinaus. Weiterlesen

Ein konsequenter Aufbau macht den Text lesbar

Manchmal sitzt man vor seiner Zeitung, trinkt einen Kaffee und ertappt sich plötzlich dabei, dass man einen Text von A bis Z gelesen hat. In solchen Fällen lohnt es sich, der Sache auf den Grund zu gehen. Warum bleibe ich dran, wenn sich einer mit 10.000 Zeichen mit der Lage der deutschen Wirtschaft auseinander setzt?

Es hängt natürlich mit der Sachkompetenz des Autors und mit all den Fakten zusammen, die er auf den Tisch legt. Aber wer sich für das journalistische Handwerk interessiert, wird auch eine Erklärung in der sprachlichen Präsentation suchen.

Wie man 10.000 Zeichen bändigt

Philip Oltermann schreibt für The Guardian und The Observer. Von ihm ist das Buch Keeping Up With the Germans: A History of Anglo-German Encounters (London: Faber and Faber, 2013 – deutsch auf Anhieb nicht wieder zu erkennen dank dem Titel: Dichter und Denker, Spinner und Banker: Eine deutsch-englische Beziehungsgeschichte. Reinbek: Rowohlt, 2013). Er hat im Übrigen auch die Guardian-Artikelserie How to Write herausgegeben.

Im Observer vom 19. Oktober 2014 hat er besagten 10.000-Zeichen-Artikel geschrieben mit dem Titel:

As cracks in its economy widen, is Germany’s miracle about to fade?

Hauptaussage dieses aufwühlenden Textes: Noch vor kurzem wurde Deutschland für deine Fähigkeit gepriesen, der Krise zu widerstehen, die praktisch ganz Europa erfasst hat. Aber jetzt werden die Risse in der deutschen Wirtschaft immer weiter.

Und so ist der Text aufgebaut

Der Text beginnt mit einer Nahaufnahme: Der Autor berichtet von der Loschwitzer Brücke in Dresden, besser bekannt unter dem Namen Das Blaue Wunder.

Es ist ein Glanzstück der Ingenieurskunst des 19. Jahrhunderts. Aber die Brücke verrostet und müsste dringend saniert werden – wenn es denn finanziell machbar wäre:

Locals call the cantilever truss bridge that connects the Dresden suburbs of Blasewitz and Loschwitz the “blue miracle”. Built in 1893 without the support of river piers, it is the kind of German engineering tour de force that could rightly claim a place in the British Museum’s current Memories of a Nation exhibition, were it not impossible to transport. However, in recent years the blue miracle has lost some its sheen…

Das Beispiel führt nahtlos zu den Finanzproblemen der Stadt Dresden, die nicht nur mit den Problemen dieser einen Brücke zu kämpfen hat:

Dresden city council is aware of the problem, but it is under financial pressure. Twenty-one million euros are being spent on overhauling the Albert bridge in the city centre, which was crumbling away so badly that bits of concrete were falling on the heads of cyclists passing underneath. The Augustus bridge, the jewel in Dresden’s eight- bridge crown, will have to come next after it was damaged by floods last year…

Im nächsten Abschnitt sehen wir über Dresden hinaus auf ganz Deutschland und den Zustand seiner Brücken und Autostraßen:

Crumbling bridges and potholed roads are a politically sensitive issue in Germany these days. Forty per cent of all bridges and a fifth of the motorway network are said to be in a “critical state”, causing traffic jams and delays up and down the country. Worse still, a growing choir of economists and politicians warn that such cracks in the country’s infrastructure are only the beginning of a much bigger problem. Germany, Europe’s model austerian, they say, is saving itself to death…

Und hier, beim letzten Satz dieses Abschnitts, sind wir sehr elegant zur zentralen Aussage gekommen: Deutschland steckt in Schwierigkeiten, und diese hängen mit seiner scheinbaren Stärke zusammen. Experten werden zitiert, die eine typisch deutsche Schwäche anprangern: die Sparsamkeit, wenn es darum geht, in die Infrastruktur zu investieren.

Dann wird das Thema noch einmal ausgeweitet:

But at least potholes can be spotted and filled. Missed investment in education, research and industry, on the other hand, might only be felt once it is too late…

Die mangelnden Investitionen in Bildung, Forschung und Industrie werden mit Zitaten und Zahlen belegt. Dies mündet in die Frage, wie nützlich eine „schwarze Null“ ist, Finanzminister Schäubles Haushaltsplan für 2015, in dem keine neue Verschuldung eingeplant ist.

Der Rest des Artikels ist der Diskussion dieses Themas gewidmet – nicht ohne den Rückverweis auf das zum Symbol aufgebauten Blauen Wunder:

But in October 2014 it is the pessimists who are setting the tone: the German economy is looking about as rusty as the blue miracle in Dresden…

Das letzte Wort hat ein Autor, der in die Zukunft blickt. Olaf Gersemann verweist auf die demographische Entwicklung und zeichnet ein trübes Bild:

“We’ve been talking about the pending demographic crisis for years, but we’ll only start to feel its impact in the next few years,” said Gersemann. “The baby boomer generation of the 50s and 60s will slowly start to disappear from the labour market. Total hours’ work will start to fall within a couple of years, depressing Germany’s growth potential.

Germany in 10 years’ time will feel so different that we will look back on today as the good old days.”

Was mich an dem Text beeindruckt, ist, wie konsequent er den Blick weitet. Er tut dies in nachvollziehbaren Schritten, ohne zu große Sprünge. Das Anfangsbeispiel, die Dresdner Brücke, bleibt immer in Erinnerung, weil es für die ganze Problematik stehen kann. Der Text liest sich flüssig, obwohl er auf viele weitere Nahaufnahmen verzichtet. Er ist linear aufgebaut. Er führt den Leser, bis er einen Überblick hat. Mehr braucht es nicht.

 

 

Storytelling, Teil 4: Vom Argumentieren zum Erzählen

Erzählen kann verschiedene Funktionen haben. Hier sollen einfache Beispiele aus der Werbung zeigen, wie sich das Erzählen allmählich selbständig gemacht hat.

Beginnen müssen wir bei der klassischen Vorstellung des Argumentierens. Die Annahme ist: Ein Produkt soll gekauft werden. Der Kunde wird mit einer Mini-Überzeugungsrede konfrontiert. Das einfachste Modell besteht aus einer Aussage, die mit einer Argumentation gestützt wird.

In einem zweiten Schritt werden wir sehen, dass diese Argumentation auch durch eine Erzählung ersetzt werden kann. Die Erzählung, nicht eine rationale Überlegung, stützt die Aussage.

Im dritten Fall stützt die Erzählung nicht mehr direkt eine Aussage, sondern das Gesamtbild des Produkts bzw. der Marke.

Im vierten Fall werden Geschichten erzählt, die nicht mehr die Geschichte der Marke sind, sondern die nur noch lose – über die Werte, die sie verkörpert – mit der Marke verbunden sind.

Letztlich werden die Konsumenten Geschichten rund um die Marke erzählen, ohne dass sie von dieser initiiert worden sind. Vom Storytelling zum Storydoing.

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Storytelling, Teil 3: Werbung, Branding

In der Werbung kann Storytelling vom Produkt losgelöst sein. Das Ziel besteht darin, dass die in der Erzählung enthaltenen Werte auf das Produkt abstrahlen.

Einer der meistdiskutierten Werbefilme während der Superbowl-Übertragung 2014 zeigte eine Folge von Bildern vom schönen, glücklichen Freizeit-Amerika – von den wilden Bergen über die Wellen des Pazifiks bis zum Familienglück im Fast-Food-Lokal. Dazu wurde von Kinderstimmen America the Beautiful (Youtube) gesungen. Die Stimmen wechselten so ab, dass der englische Text ins Spanische und dann in weitere sieben Sprachen von ImmigrantInnen überging.

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Storytelling, Teil 2: Was bedeutet Erzählen?

„Erzählen“ hat im Deutschen mehrere Bedeutungen. Für die Diskussion über Storytelling ist es wichtig, die Begriffe zu klären und auseinanderzuhalten.

Erzählen ist eine der sprachlichen Handlungsformen, die man als Journalistin oder Journalist beherrscht. Wer erzählt, gibt die Entwicklung einer Geschichte von einem Anfangszustand zu einem Endzustand dar.

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Storytelling für Studierende der Medienwissenschaft (Script)

Hier finden Sie Vorlesungsskripte, die in den Storytelling-Seminaren der letzten Jahre entstanden sind. Sie wenden sich an Studierende der Medienwissenschaft. Im Gegensatz zu literaturwissenschaftlichen Ansätzen werden hier einfache Formen des Erzählens behandelt, die einem praktischen Zweck dienen, der über die Unterhaltung hinausgeht: Im Journalismus wird erzählt, um eine Aussage zu stützen; in der Werbung wird erzählt, um eine Stimmung zu erzielen; im Berufsleben wird erzählt, um Erfahrungen weiter zu geben, usw.

Der folgende Text ist in (meinem) Englisch verfasst. Er kann hier als PDF heruntergeladen werden:

Script Storytelling 2016 4th ed

Eine deutschsprachige Fassung wird gelegentlich folgen.