Susan Cain ist eine bekennende Introvertierte. In ihrer Familie schuf man Gemeinsamkeit, indem sich jeder im Wohnzimmer in eine Ecke kuschelte und ein Buch las. Als sie als Kind zum ersten Mal ins Summer Camp durfte, hoffte sie auf lauter solche Erlebnisse – und wurde bitter enttäuscht. Denn dort – wie im späteren Leben fast überall – ging es darum, ständig ausgelassen und in Bewegung zu sein.
Weil sie fand, die Gesellschaft und die Art, wie man sich zu geben hat, sei von Extravertierten dominiert, schrieb sie 2012 das Buch: Quiet (in der deutschen Übersetzung: Still). Es ist ein gut dokumentiertes Plädoyer gegen die Dominanz der Extravertierten und für eine Aufwertung der Werte, die introvertierte Menschen verkörpern.
In diesem Buch erzählt sie von ihrer Angst vor öffentlichen Auftritten, die sie bis ins Erwachsenenalter begleitet hat. Sie bekämpfte diese Angst in einem spezialisierten New Yorker Kurszentrum. Dort fand sie sich in einer Gruppe von lauter Menschen mit ähnlichen Problemen wieder: Menschen, für die es die Hölle war, sich vor eine Gruppe zu stellen und zu dieser zu reden.
Susan Cain bezeichnet das Ziel des Kurses als Desensibilisierung. Indem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Vielzahl von Redeerfahrungen machen und dafür positives Feedback bekommen, verlieren sie die Ängste. Was sie nicht sagt, ist, dass man dank solcher Übungen die Rolle der Zuhörer anders wertet. Sie sind nicht mehr die passiven Empfänger der Botschaft, sondern Gesprächspartner.
Dies zeigt ihre Erzählung vom ersten Kursabend. Sie sollte sich vor die Gruppe stellen, diese begrüßen und dann Fragen aus dem Publikum beantworten. Sie schildert das so:
Ich atmete tief ein. „Hellooo!!!!“ rief ich, in der Hoffnung, dynamisch zu klingen.
Aber diese Begrüßung bewirkte eher das Gegenteil. Sie löste erschreckte Mienen aus. Ganz anders war es, als sie ihre Fragen gestellt bekam. Die Atmosphäre veränderte sich und sie wirkte ruhig und selbstsicher. Der Kursleiter hatte sie nach ihren ersten Worten ermahnt: „Sei einfach du selbst.“ Und da hatte sie offenbar aufgehört, sich um ihre Wirkung zu sorgen. Sie hörte hin, was die Leute wissen wollten, und erfuhr, dass sie sich für sie interessierten.
Diese kurze Episode offenbart zwei grundlegend verschiedene Konzepte des öffentlichen Redens:
- das monologische, auf den Erfolg eines Einzelnen ausgerichtete Präsentieren
- das dialogische Reden, das möglichst viele Elemente aus dem alltäglichen Gespräch übernimmt und das gelingt, weil man das Publikum mit einbezieht.
Reden als Dialog – das braucht keine Frage-und-Antwort-Sequenzen. Der Dialog beginnt schon beim Wahrnehmen des Publikums: Da sind Leute, die sich für mich und meine Sache interessieren. Sie unterstützen mich, indem sie mitdenken. Und wenn einmal etwas schiefgeht (wenn mir etwa ein Wort fehlt), werden sie mir helfen (indem sie es mir zurufen). Denn die Art, wie ich vor ihnen stehe und zu ihnen rede, zeigt ihnen, dass alle einem gemeinsamen Werk mitarbeiten.