Destruktives Geschwurbel

Russia Today, Putins Sprachrohr für die Welt außerhalb Russlands, räumt immer wieder Platz ein für Kommentatoren, die die politischen Ereignisse mit intellektuellen Analysen erhellen. Zum Beispiel für Sergej Karaganov, der u.a. einen namhaften russischen Think-Tank vertritt. Er skizziert schon länger schonungslos „Russlands neue Außenpolitik, die Putin-Doktrin.“ Ein Kernbegriff: die konstruktive Zerstörung:

Es scheint, als sei Russland in eine neue Ära seiner Außenpolitik eingetreten – eine “konstruktive Zerstörung”, wie wir es nennen, des bisherigen Modells der Beziehungen zum Westen.

„Konstruktive Zerstörung“ – auf Russisch konstruktivnaja rasrušitel’nost’ – das klingt nach Newspeak, nach George Orwells „1984“, wo die Menschen mit Parolen wie: „Krieg ist Frieden“ eingelullt werden. Karaganovs Artikel ist ansonsten schonungslos offen. Aber dieser Kernbegriff schafft problemlos den Anschluss an die Euphemismen des großen Vaterlandsverteidigers Big Vlady.

Contradictio

Contradictio in adiecto nennen es die Lateiner, wenn in einem Ausdruck ein Begriff mit einem Attribut versehen wird, der ihm widerspricht. Nun – Karaganov erklärt über viele Seiten die angebliche Notwendigkeit einer Politik, die die bisherige Beziehung zum „Westen“ unerbittlich zertrümmert:

„Konstruktive Zerstörung ist nicht aggressiv. Russland behauptet, dass es niemanden angreifen oder in die Luft jagen wird. Es hat es einfach nicht nötig.“

So geht es weiter. Dass eine Sache zerstört wird, ist also konstruktiv und überhaupt „nicht aggressiv“. Russland will niemanden angreifen? Niemanden „in die Luft jagen” (podryvat’)? Wir sind zur Zeit alle Zeugen dieser friedfertigen Politik.

Paradoxe Phrasen klingen klug

Dummerweise haben auch deutsche Autoren diesen Newspeak entdeckt. Und Russia Today druckt alles dankbar ab. Ein Uli Gellermann, der hier als „Publizist“ vorgestellt wird, wird zitiert mit seiner Behauptung:

Offenkundig hat die russische Führung einer atomaren Erpressung zuvorkommen wollen und begreift den Einmarsch als Krieg gegen den Krieg.

Das ist ein Zitat aus Gellermanns Website „Rationalgalerie“. Es wirkt immer wieder besonders intellektuell, wenn man Begriffe, die sich scheinbar widersprechen, zu einer Pseudo-Erklärung zusammenmixt. Vernebelungstaktiker paart sich mit konstruktivem Zerstörer.

Wishful Thinking und Geschwurbel

Hermann Ploppa, Vertreter mehrerer deutscher Vordenker-Gruppierungen („Die Basis“, „Bürgerliste Weiterdenken“, „Demokratischer Widerstand“), erklärt den Krieg gegen die Ukraine allen Ernstes so:

Bevor den Russen das Messer an die Kehle gesetzt wird, holt Putin zum Befreiungsschlag aus.

Er meint ungefähr: Bevor die NATO die Russische Föderation mit Atomwaffen angreift, wird mal ein weiteres Nachbarland eingenommen. Zu Deutsch heißt das ungefähr: „Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen.“

Kein Wunder, dass Russia Today den Text, in dem Ploppa u.a. insinuiert, er gehöre zur „deutschen Friedensbewegung“, an prominenter Stelle abdruckt. Das ist natürlich nicht mehr Newspeak, das ist Wishful thinking. Übrigens enthält der Artikel einige historische Aspekte, die hierzulande zu wenig diskutiert werden. Aber was können die aussagen, wenn sie zusammengemengt werden mit Sätzen wie:

„Selbstverständlich umfasst der Kampf gegen die Corona-Diktatur auch den Kampf gegen die nukleare Bewaffnung unserer östlichen Nachbarn.“

Ja, wenn es Lyrik wäre

Mit guten widersprüchlichen Ausdrücken lässt sich spielen und oft mehr aussagen als mit direkten Worten. Aber in politischen Kommentaren dienen sie vor allem dazu, sich um eine klare Analyse der Fakten zu drücken.

Ja, wenn es Lyrik wäre. Dann ließe sich über solches Geschwurbel trefflich reden.Man könnte zum Beispiel Santiano hören, die deutsche Shanty-Rock-Gruppe. Sie hat 2021 auf ihrem düsteren Album Wenn die Kälte kommt das Lied „Nichts als Horizonte“ veröffentlicht. (Alles grau, und der Weg ist noch so weit. / Keiner spricht, schwer und bleiern kriecht die Zeit…) – Es ist ein Depri-Text, den man schnell vergessen könnte, hätt)e darin Autor Frank Ramond nicht ein kleines Juwel platziert:

Diese raue, blaue Weite
Bringt mein Herz um den Verstand.

Im deutschen Schlager sind Herz und Verstand meist Gegensätze (Petula Clark: 1962: „Mein Herz sagt ja, doch mein Verstand sagt nein…“). Aber hier sind Herz und Verstand eine Verbindung eingegangen, und die droht zu zerbrechen. Oxymoron nennt es der Literaturkritker, und je nach dem hält er es für eine stilistische Perle oder eine Stilblüte.

Es wird Tage brauchen, bis ich die Tiefe dieses Satzes ausgelotet habe. Das ist der Sinn von Lyrik. Ich kann es allerdings auch lassen – angesichts von Ereignissen, die nicht Herzen, sondern Menschen um den Verstand bringen. Weil da irgendwo ein Putin und seine Adlaten sitzen. Die Krieg führen, nicht „Krieg gegen den Krieg“. Die auf Zerstörung aus sind, nicht auf „konstruktive Zerstörung.“ Und die nicht das Herz eines Menschen um den Verstand bringen, sondern die bei vollem Verstand Menschen mit Herz umbringen.