Um die Jahrhundertwende war Peter Altenberg „während 23 Saisonen“ zur Sommerfrische in Gmunden. Der Uhrmacher hatte in seinem Laden ein Grammophon, und einer der schönsten Texte, die Altenberg geschrieben hat, dreht sich darum, dass man beim Uhrmacher für ein paar Groschen ein Musikstück hören konnte. Nein, er dreht sich natürlich nicht darum, die Geschichte setzt es stillschweigend voraus. Er brauchte keine Erklärung, dass das in Gmunden die beste Möglichkeit war, ein Musikstück eigener Wahl zu hören.
Es ist eine wehmütige Geschichte, in der sich ein Kunde und eine Kundin um ein paar Fußbreit näherkommen, weil sie das Stück gemeinsam hören. Dann aber fanden sich je länger je häufiger auch Wirtschaften und Vereinslokale mit Grammophonen und Plattensammlungen – und in begüterten Heimen, so dass sich der Wunsch entwickeln konnte, ein Konzert privat zu hören, in den eigenen vier Wänden, so wie die Adeligen in früheren Zeiten. Liebespaare drehten sich in ihrer Wohnung nach Grammophonmusik im Tanz. Und das Angebot des Gmundener Uhrmachers war überholt. „Der Herbst kam, und die Esplanade wurde licht von gelben spärlichen Blättern,” schreibt Altenberg 1908. „Da wurde denn auch das Grammophon im Uhrmacherladen eingestellt, weil es sich nicht mehr rentierte.”
Sechzig Jahre später
Zwei junge Leute treffen sich vor der Jukebox. Jeder hat eine Münze in der Hand und will der erste sein. Das ist die rasantere und plattere Version der Geschichte aus dem Jahr 1965. Die bereits arrivierte Schlagersängerin Sheila gibt sie mit dem Nachwuchstalent Akim in einem Duett wieder. Es kommt zu einem Disput, in dem in dem jeder sagt: „Ich bin dran“ – bis es sich so wunderbar fügt, dass sich beide denselben Titel gewünscht haben. Es ist der Beginn einer langen Freundschaft.
Gemeinsames Musikhören ist 1908 wie 1965 an die Rillen einer harten, schwarzen Scheibe gebunden. Wer sie selber zu Hause hat, muss sie anfassen, aus der Hülle ziehen und auf den Teller legen. Der Uhrmacher überlässt das aber nicht seinen Kunden, und der Apparat in der Bar verhindert ebenfalls, dass die Kundschaft die Platten zerkratzen könnte.
Wer ein bestimmtes Lied hören will, ohne dafür Geld auszugeben, hat über Jahrzehnte nur die Wahl, dem Radio zu schreiben und zu hoffen, dass sein Wunsch in der Wunschkonzert-Sendung berücksichtigt wird. Wenn er Glück hat, hört er es am Montagabend über den Äther. Ein elektronisches Medium ist dazwischengeschaltet mit einer Redaktion, die die Macht hat, Wünsche zu erfüllen oder auszusortieren.
Das lästige Grammophon
Dass das das Musikhören privatisiert wird, zeigt sich an den Beschwerden über das Grammophon. Es wird zunächst für öffentliche Veranstaltungen genutzt und bewundert. Aber je mehr Leute sich eines leisten können, desto stärker wird es als Belästigung empfunden, wenn seine Laute nach außen dringen.
George Robert Sims (1906):
»Mabel!« rief Kaudel entsetzt. »Du wirst doch nicht auf die Idee gekommen sein, ein Grammophon zu kaufen?«
»Doch, und zwar ein herrliches. Und fünfzig Walzen habe ich gekauft. Warte nur einen Augenblick — jetzt sollst du etwas Lustiges hören!«
Kaudel setzte sich auf einen Vorplatzstuhl und starrte entsetzt aufs Barometer. Ein Grammophon! Das Haus, worin er arbeiten und sein Brot verdienen mußte, überflutet von Musik! (Die junge Frau Kaudel, Kap. 15)
Otto Julius Bierbaum (1908):
„Der Kinematographenunfug in Florenz ist wirklich abscheulich, denn er geht mit einem greulichen Mißbrauch von Grammophonen einher, die ganze Stadtviertel mit ihrem blechheiseren Gegröle erfüllen.“ (Blätter aus Fiesole, Kap. 3)
Franz Kafka (1914/15):
„Eben begann ein in besseren Stadtvierteln ausgedientes Grammophon mörderisch zu spielen.“ („Der Prozess“)
Otto Ernst (1918):
„… ein allerflüchtigster Blick durch die Türspalten mag genügen, um vor allen Dingen festzustellen, daß im Wohnzimmer ein Grammophon steht, mit einem Schalltrichter so groß wie die Posaune des jüngsten Gerichtes. Die Auswürfe dieses Apparats, die vorwiegend bei offenen Fenstern produziert werden, sind denn auch seit Jahren im ganzen Regierungsbezirk belieb.“ (August Gutbier oder Die sieben Weisen im Franziskanerbräu, Kap. 2)
Felix Salten (1928):
„Hie und da kreischte ein heiseres Grammophon und wirkte wie eine Insulte.“ (Martin Overbeck, Kap. 1)
Franz Werfel (1939):
„Das Grammophon, das ein paar Minuten lang Atem geschöpft hatte, heulte von neuem los.“ (Der veruntreute Himmel, Kap. 3)