Paula ruft ihre Freundin Emma an und fragt: „Was machst du gerade?“ Emma: „Ich höre Musik.“ Sie lebt, sagen wir, in den 1970er-Jahren und hat sich einen Plattenspieler gekauft und eine LP aufgelegt. Sie hört Musik. Das ist nicht erstaunlich, und Paula wechselt bald das Thema.
Aber stell dir vor, es ist hundert Jahre früher, Mitte des 19. Jahrhunderts, und ein junges Mädchen schreibt – in Ermangelung eines Telefons – ihrer Brieffreundin: „Ich sitze zu Hause und höre Musik.“
Dass sie sich ein Gerät beschafft hat, das sie in ihrem Stübchen aufstellen kann, um Musik erklingen zu lassen, ist höchst unwahrscheinlich. Am ehesten lässt sich denken, dass sich in der Nähe ein Blasorchester aufgestellt hat und sie dessen Klänge durch das geöffnete Fenster wahrnimmt.
Den Ausdruck „Musik hören“ im heutigen, aktiven Sinn gibt es zu der Zeit nicht. „Ich höre dies oder das“ bedeutet noch bis ins 19. Jahrhundert in erster Linie: Es dringt an mein Ohr, ohne dass ich es veranlasst hätte. „Ich höre Musik“ ist auf der gleichen Ebene wie: „Ich höre Grillengezirpe.“
Psychisch krank oder modern?
„Ich höre Musik“, sagte auch der Engländer, der in den frühen 1920er-Jahren in die Irrenanstalt eingeliefert wurde. Denn er hörte nicht nur Musik, sondern auch Stimmen, die es nur in seinem Kopf zu geben schien:
„Der Fall schien anfangs ein sehr durchschnittlicher zu sein, bis eines Tages der Anstaltsarzt durch einen Zufall hinter einen merkwürdigen Zusammenhang kam. Er saß im Hospitalgarten, hatte die Radiohörer umgeschnallt (man kannte damals noch keine Lautsprecher) und hörte eine musikalische Übertragung an. Dabei fiel ihm auf, dass dieser Patient jedesmal, wenn er vorbeispazierte, die Melodie summte, die er gerade hörte. Das machte ihn stutzig. Er prüfte den Fall eingehender und stellte tatsächlich fest, dass der Patient alle Übertragungen eines Londoner Senders auffing. Sein Gehirn reagierte also auf eine bestimmte Wellenlänge als Empfangsstation, versagte aber bei allen andern Sendern.“ (H[ildegard].J[ohanna]. Kaeser (1939): Der Zauberspiegel. Ein Buch für wissbegierige Knaben und Mädchen. Zürich und Leipzig: Orell Füssli S. 97)
Privat statt öffentlich
Der Patient hört unfreiwillig Musik, der Arzt ist schon ein aktiver Musikhörer. Zu der Zeit gab es nicht nur das Radio, sondern auch mechanische Musikinstrumente und das Grammophon. Sie wurden in den ersten Jahrzehnen des 20. Jahrhunderts allmählich privatisiert, und seither heißt „Musik hören“ vor allem: für sich allein eine Darbietung organisieren und bei irgendeiner Tätigkeit konsumieren. Und seit es Streaming-Dienste gibt, ist das “eigene” Programm nicht einmal mehr vom Kauf teurer Tonträger abhängig. Ich höre meine persönliche Musik – in der Häufigkeit und Reihenfolge, die mir behagt, oder die mir ein Algorithmus meinen Bedürfnissen entsprechend serviert.