„Musik hören“ zu einer Zeit, als die privaten Grammophone, Pianolas oder Radioempfänger noch nicht zur Verfügung standen: Menschen haben Teil an der Aufführung eines Liedes, eines Marsches, eines Orgelvorspiels… Musikgenuss ein gemeinsames Erlebnis von Vortragenden und Zuhörenden. Und auch wenn es nur eine einzige Person ist, die einer auserwählten anderen etwas vorspielt, so hat es doch mehr von einem Dialog als von einer einseitigen Anhörung.
Nicht nur in der Darbietung, auch in der Diskussion des musikalischen Erlebnisses spiegelt sich die Selbstverständlichkeit, dass Musikgenuss keine einsame Angelegenheit sein kann. Zwar ist Musik manchmal eine Überraschung, für eine Gruppe von Menschen oder einen allein, doch auch da ist sie eher ein unerwartetes Geschenk als eine Berieselung, und vor allem wird sie für so ungewöhnlich empfunden, dass sie ausführlich verarbeitet werden muss. (Man lese die ausführliche Schilderung des Umgangs Wilhelm Meisters mit dem unerwarteten Lied des Harfners, das durch dessen Tür dringt [2. Buch, 13. Kapitel].)
Musik im Wald um 1910
Zwei Waisenkinder, Gundel und Dieter, lernen eine geheimnisvolle Welt kennen: die Welt um Schloss Rabenburg. Ihr Großonkel hat sie dort aufgenommen. Am Silvesternachmittag begleitet er sie zusammen mit Großtante Susanne auf einen Spaziergang durch die verschneite Umgebung. Sie hören die Raben krächzen und einen Specht, der die Tanne „abklopft“. Ansonsten ist das Tal ganz still. Dann aber – ein Ton:
Ein Ton durchdrang dessen Stille, es raschelte und knisterte und auf einmal kam ein Singen durch den Wald, fern und doch deutlich vernehmbar:
»O Täler weit, o Höhen,
O schöner, weißer Wald
Du meiner Lust und Wehen,
Andächtiger Aufenthalt.«
Eine schöne klare Männerstimme war es, die sang; wie ein Gebet so feierlich und andächtig tönte das Lied. Die vier Wanderer waren stehengeblieben, um keinen Ton zu verlieren, von dem Sänger selbst war nichts zu sehen, man hörte auch kein Rascheln und Schreiten mehr. Selbst die Raben waren verstummt, es war, als lausche der ganze Wald dem Liede. (Josephine Siebe: Die Schlosskinder auf Rabenburg, 12. Kapitel.)
Ein Lied ist das Zeichen, dass noch ein Mensch im einsamen Tal wandert. Es ist das wehmütig-besinnliche Lied von Eichendorff, das den Sänger ganz offenbar so sehr ergreift, dass er mitten drin abbricht. Die Wanderer werweißen, wer der Sänger wohl sei. „Ein verlaufener Wandervogel wohl“, meint der Großonkel. Aber seine Frau weiß es besser. Sie erkennt: „Das war kein lustiger Wandervogel, das war einer, der in Trauer durch den Wald ging.“
Die Autorin Josephine Siebe lässt diese Geschichte am Jahresende 1913 spielen. Ihren Spaziergängern geht es ähnlich wie vielen deutschen Romanfiguren vor ihnen: Immer wieder, besonders wenn sie durch die Wälder streiften, sind sie auf einsame Wanderer gestoßen, die für sich ein Lied singen und dem Lauschenden unwillentlich etwas von sich verraten. Es ist oft der erste Kontakt mit einem Menschen, dem sie später wieder begegnen, meist auch einer Botschaft, die für sie eine tiefe Bedeutung gewinnt.
Das Lied als ein Anzeichen dafür, dass ein Mensch in der Nähe ist, eine Botschaft über dessen Gemütszustand, ein Leitmotiv für die weiteren Erlebnisse der Zuhörerin oder des Zuhörers…
Musik im Wald um 1980
Einige Jahrzehnte später ist das mit dem Singen nicht mehr so sexy. Die Wanderer stoßen nicht mehr auf einsame Sänger im Walde. Sie hören Musik, voll orchestriert und alles andere als live:
Es war einfach ein herrlicher Frühlingsspaziergang, bis man plötzlich plärrende Tanzmusik vernahm…
So beschreibt Konrad Lorenz ein Erlebnis im Wald am Ende des 20. Jahrhunderts. Es ist nicht mehr Gesang, mit dem sich ein Wanderer bemerkbar macht, sondern Musik, und zwar reproduzierte Musik ganzer Orchester, und sie wird als Lärm empfunden:
Über den Waldweg, den Hügelkamm entlang, kaum ein Junge auf einem Fahrrad, in dessen Gepäckträger ein lärmendes Kofferradio klemmte. Meine Frau meinte: „Der hat Angst, er könnte die Vögel singen hören.“ (Konrad Lorenz/Kurt L. Mündl (1984): Noah würde Segel setzen. Vor uns die Sintflut. Seewald Verlag, Stuttgart und Herford, S. 23)
Vielleicht hätten die Lorenzens anders reagiert, wenn der Junge singend vorbeigefahren wäre. Aber der Junge ist ein Kind der 1980er und singt nicht selbst. Er lässt singen. Präziser gesagt: Die Organisation, mit der er über sein Transistorgerät in Verbindung getreten ist, die öffentlich-rechtliche Rundfunkgesellschaft, hat ein Programm zusammengestellt, das aus von Unternehmen der Plattenindustrie produzierten Aufnahmen singender und spielender Menschen besteht. Es war also ein Produzent in einem Studio, der im Auftrag einer komplexen Organisation hatte singen lassen.
Aber das Gerät, das dieses Programm einzufangen vermag, ist tragbar und robust und geht nicht einmal kaputt, wenn ein Metallbügel es mittels starker Federn auf ein Fahrradgestellt presst. Der Begriff „Kofferradio“ wird zur Zeit dieser Begegnung längst nicht mehr verwendet. Es ist Anfang der 1980er-Jahre, das Lied ist vielleicht ein Produkt der Neuen Deutschen Welle wie Major Tom von Peter Schilling, auf dem WEA-Label der Warner Music Group.
Herr und Frau Lorenz haben nicht die geringste Lust, den radiohörenden Radfahrer kennenzulernen und sich ihm „in tiefem, warmem Mitleid“ zuzuwenden. Er ist für sie vielmehr Anlass zu einer kunstkritischen Betrachtung:
Es gibt allzu viele Menschen, die infolge einer falschen ästhetischen Erziehung Popmusik, grelle Farben und manche fragwürdigen Kunstformen für die höchsten Dinge der Schöpfung halten.
Eigentlich sorgen sie sich um den bedrohten Wald. Das Wort „Waldsterben“ ist in aller Munde, und im selben Text wird erklärt, was sich alles verändert, wenn zu viele Bäume gefällt werden.
Liebe zum Wald und ein plärrendes Kofferradio passen aber nicht zusammen. Düster sind die Ahnungen des Naturforschers, der den Verdacht hegt, dass für die Kofferradio-Jugend „die Harmonie der Natur nicht anziehend“ ist.
Doch habe ich manchmal das dunkle Gefühl, dass sie sich eigentlich irgendwie doch der Minderwertigkeit ihrer eigenen Ideale bewusst sind…
Der Junge aber tritt in die Pedale und saust am Verhaltensforscher und seiner Gattin vorbei. Er ist in Bewegung, genießt den Fahrtwind und das Gefühl, das der Song zu verstärken scheint: „Völlig losgelöst…“
Mitbekommen, wie ein anderer Musik hört: das kann heutzutage als Belästigung aufgefasst werden. Die Voraussetzung dazu ist, dass die modernen Geräte privates Musikhören ermöglichen.