Die Journalistin Rukmini Callimachi von der New York Times interviewt einen jungen Kanadier, der behauptet, als Kämpfer beim IS gedient und Menschen umgebracht zu haben. In ihrem vielgefeierten Podcast Caliphate erzählt gekonnt über die Abenteuer und Verbrechen – bis über die Authentizität ihrer Quelle Zweifel aufkommen und sich die New York Times mit einem peinlichen Fälscher-Problem im eigenen Haus konfrontiert sieht.
Der Journalist, der mich um ein Interview anfragt, hat die Idee, dass das Ganze mit dem seit längerem grassierenden Storytelling-Hype zu tun hat. Die Redaktionen sind so sehr auf gute Geschichten aus, dass sie gegenüber der Nachrecherche nachlässig werden.
Da rennt er bei mir offene Türen ein. Ja, sage ich. Es ist ein Riesenproblem, dass die Medienhäuser ihren Redaktionen Storytelling verordnen und es über die gründliche Recherche stellen.
Aber dann sagt eine Kollegin: Journalismus bedeutet doch, Geschichten zu erzählen.
Ja. Erzählen zu können, macht den Journalismus lebendiger. Aber wer Storytelling sagt, hebt das Erzählen über alle anderen journalistischen Fähigkeiten hinaus.
Klassischer Journalismus bedeutet: Ich recherchiere gründlich, und wenn ich dann einen Menschen finden, an dessen Geschichte ich das Ganze aufhängen kann, wird ein attraktiver Text daraus.
Storytelling-Journalismus bedeutet: Ich suche zu einem Thema nach einer interessanten Person, aus deren Perspektive erzählt werden kann. Sie dient mir als Quelle und repräsentativer Fall. Die gründliche Recherche tritt in den Hintergrund.
Zugegeben, das muss nicht so sein. Aber im Kampf um die beste Geschichte können die allgemeineren Fakten untergehen.
Gefahren
Storytelling wird dem Journalismus von oben diktiert. Die Chefs in der Verwaltung haben in ihren Management-Seminaren den Begriff gelernt – von Trainern, denen der Journalismus ziemlich egal ist, weil es ihnen eher drum geht, die Mitarbeiterführung über Geschichten zu propagieren. Und weil sie herausgefunden haben, dass das Marketing mit Storytelling seit Jahrzehnten seine Erfolge feiert. Als Werber erzähle ich längst nicht mehr, wie der Whisky schmeckt, sondern ich erzähle eine Geschichte aus dem schottischen Hochland, in dem der Whisky gar nicht vorkommen muss.
Im Journalismus ist das Problem aber, dass eine anrührende Geschichte oft vom wahren Thema ablenkt. Und dass man bei einer guten Geschichte leicht auf Hintergrund-Fakten verzichten kann.
Und ein Publikum, das seine Informationen vornehmlich aus Geschichten bezieht, büßt seine Fähigkeit zum rationalen Denken ein, zugunsten eines Denkens in Episoden und Klischees.
Storytelling ist eine Strategie
Erzählen ist ein Verfahren, um die recherchierten Fakten attraktiv zu präsentieren. Storytelling ist eine Strategie. Das Ziel des Storytelling ist nicht, die Fakten zu vermitteln, sondern mehr Klicks zu generieren. Wer „Storytelling“ sagt, ist bereit, das journalistische Produkt zu verändern und dabei in Kauf zu nehmen, dass die klassische journalistische Aufgabe der Hintergrundinformation auf der Strecke bleibt.
Kritiklos
Kritik am Storytelling-Hype trifft im deutschsprachigen Raum kaum auf Widerhall. Die Journalistenschulen buchen Storytelling-Trainer, die Medienhäuser meinen, durch Storytelling-Formate etwas gegen ihre schwindenden Konsumentenzahlen tun zu können.
In Frankreich hat schon 2007 der Autor Christian Salmon eine gründliche Kritik am Storytelling publiziert. „La machine à fabriquer des histoires et formater les esprits“, nennt er es. Das Buch wurde in zehn Sprachen übersetzt, aber nicht auf Deutsch.
Dass es problematisch sein kann, die Storytelling-Masche der Werber und politischen Propaganda zu übernehmen, will man im deutschsprachigen Journalismus nicht diskutieren.