Storytelling, Teil 7: Storytelling im Journalismus?

Auch bei Journalistinnen und Journalisten ist die Botschaft unterdessen angekommen: Wer Geschichten erzählen kann, dem hören die Menschen lieber zu.

Und seit der Begriff Storytelling sogar in die Chefetagen multinationaler Unternehmen gedrungen ist, wird auch in den Redaktionen oft völlig unkritisch damit umgegangen. Wer das dokumentiert haben will, lese die Berichte über die Herzberg-Tagung vom 7. November 2012

Wer auf jener Tagung den gestandenen Qualitätsjournalisten zuhörte, bekam den Eindruck, Storytelling sei das Tigerbalsam der Journalisten. Die Müh und Plag, eine komplexe Welt zu erklären, ist mit etwas Storytelling wie weggeblasen.

Wer sich heute als Journalist zum Storyteller neu definieren will, sollte sich zuerst die Rahmenbedingungen bewusst machen:

Die Gefahr, professionellen Storys auf den Leim zu gehen:
Geschichten sind längst nicht mehr nur, was Journalistinnen und Journalisten durch gründliche Recherche erarbeiten. Viele Geschichten werden ihnen von Werbern und Öffentlichkeitsarbeitern pfannenfertig serviert. Sie haben sie erfunden, um die Art, wie über ihre Anliegen und Akteure so berichtet wird, wie es in ihre Strategie passt. Jede Geschichte, die eine PR-Abteilung verbreitet, steht in Konkurrenz zu einer alternativen, journalistischen Aussage. Wenn du die vorgefertigte Geschichte der Werbung oder PR übernimmst, überlässt du deine eigene Recherche-Arbeit deinen Akteuren.

Die Gefahr, durch Personalisierung zu verfälschen:
Geschichten fördern die Personalisierung. Es ist zwar attraktiver, eine Sache anhand der Akteure, der Beteiligten, der Betroffenen zu behandeln. Die Sache wird dadurch plastischer, menschlicher. Aber oft wird sie damit ganz einfach falsch wiedergegeben. Ein Vorgang, für den eine größere Organisation verantwortlich ist, wird auf die Entscheidung einer einzelnen Person reduziert. Z.B. wird Putin für die russische Rechtsprechung zum Thema Homosexualität verantwortlich gemacht. Die Vorstellung liegt nahe, dass sich alles ändert, sobald statt Putin irgendein Oligarch Präsident wäre.

Die Gefahr, informative Textsorten durch unterhaltende zu ersetzen:
Die Propagandisten des Storytelling zeigen die Kraft der Erzählung bevorzugt mit schönen, langen Reportagen. Mal abgesehen davon, dass die meisten Journalisten nur selten in die Lage kommen, schöne, lange Reportagen zu verfassen und abzusetzen: Die Welt braucht auch klare, verständliche Meldungen, überzeugende Kommentare, sachgerechte Berichte usw. Für aktuelle Themen der Politik, der Kultur, der Wissenschaft, des Sports usw. sind die klassischen journalistischen Textsorten entwickelt worden. Zu diesen gehören auch die Reportage, die Glosse, das Porträt und viele andere erzählerische Formen. Aber im Vergleich zu den anderen genannten Textsorten ist ihre Bedeutung sekundär. Sie sind weniger aktuell und sie eignen sich weniger gut für präzise Information, die sich nicht vor Abstraktion und rationaler Argumentation scheut. Dass innerhalb dieser Texte erzählt werden darf, ist selbstverständlich. Aber es ist in den meisten Fällen ein Mittel zum Zweck, nicht die Hauptsache. (Und falls Sie der Meinung sind, eine Nachrichtenmeldung sei schließlich auch eine Erzählung: Sie ist es nicht!)

Erzählen verändert die Position des Journalisten:
Es ist eine gute alte Sitte, Berichterstattung und Meinung zu trennen. Mit dieser Tradition (die in vielen Ländern noch nicht sehr alt ist) wird oft ohne Not gebrochen. Wer erzählerisch vorgeht, läuft Gefahr, unwillentlich zu kommentieren. Die Rolle des Erzählers fördert eine belehrende Haltung. Wer belehrt, verwendet schnell wertende Ausdrücke. Dies muss nicht so sein. Aber es zeigt sich, dass in vielen erzählenden Texten Information und Wertung vermischt werden, auch dann, wenn schon andere stilistische Mittel (Perspektive!) die notwendige Wirkung erzeugen.

Das Wertvolle am Journalismus ist nicht die tolle Erzählleistung vor einem staunenden Publikum, sondern der Dialog:
Journalismus dient der Meinungsbildung. In öffentlichen Diskussionen steuert Journalismus wesentliche Elemente bei. Das können einzelne Informationen sein oder Denkanstöße, Gespräche oder aktuelle Berichte. Aber immer sind es nur Beiträge zum Dialog, nie ein Ersatz des Dialogs. Wer sich aber vor allem hofft, mit tollen Geschichten die Menschheit zum Staunen zu bringen, setzt auf eine ganz andere Art der Wirkung. Er möchte mit einem einzigen Monolog eine Veränderung hervorrufen. In einem demokratischen System ist das aber nicht wünschenswert.
Natürlich sind nicht alle Verfechter des Storytelling Antidemokraten. Aber es lohnt sich, die dialogische Kraft des Journalismus stärker zu betonen. Dann wird man unter anderem herausfinden, dass es Textsorten gibt, die in sich schon dialogisch sind: z.B. Interviews oder Berichte mit O-Ton. Sie sind, wenn sie gut gemacht sind, nicht weniger spannend als erzählerische Texte. Aber in ihnen wohnt eine wichtige Kraft des Journalismus: die Kraft, den Meinungsaustausch anzustoßen.