Der Professor lacht

Das Magazin Focus schreibt über meinen Wohnort und darüber, wie hier mit Corona umgegangen wird. Tübingen ist ein Krähwinkel, sagte mein belesener Freund Piero schon vor dreißig Jahren, und deshalb gehört dazu auch diese heitere Szene:

Aus einem alten Fachwerkgebäude, nicht weit vom pittoresken Tübinger Marktplatz, kommt ein Mann mit Hund. Jürg Häusermann ist ehemaliger Professor, die Universität ist in der Stadt omnipräsent. Der 69-Jährige wirkt entspannt, Maske trägt er nur in der unmittelbaren Nähe von anderen Menschen. Er besitzt etwas, um das ihn manche beneiden: Antikörper gegen Covid-19. […] Am Zelt für den Schnelltest läuft er vorbei, er braucht ihn nicht. “Tübinger Modell”? Der Professor lacht. (Focus 52/2020, S. 41.)

Der Professor lacht. Er tut das scheinbar als Kommentar zu den Tübinger Anstrengungen in der Pandemie-Bekämpfung. Das wirkt naiv und egoistisch, und wenn ich dieser Professor wäre, würde ich mich schämen. Dummerweise bin ich aber dieser Professor.

Nur ist die Szene nie passiert.

Sie schildert direkt das Gegenteil meiner Haltung. Ich mokiere mich nicht über die Anstrengungen von Medizinerinnen und Pflegepersonal und auch nicht über die Menschen, die Angst haben, die Krankheit zu bekommen. Der Autor hat kein Wort mit mir gesprochen. Er hat die Szene frei erfunden auf Grund eines Gesprächs, das ein Mitarbeiter mit mir geführt hat und in dem ich mich klar äußerte: Ich trage die Maske bewusst, weil das in jedem Fall Sinn macht, Antikörper hin oder her, und weil ich in diesen Zeiten kein Zeichen der Sorglosigkeit setzen will.

Eine erfundene Szene

Zum journalistischen Erzählen gehört unter anderem die Kunst, in einen längeren Text Szenen einzufügen: Nahaufnahmen, bei denen ein typischer Vorgang geschildert wird. Zum Beispiel wie der genannte Professor an der Corona-Teststelle vorbeigeht und lacht, weil er sie vermeintlich nicht mehr braucht.

Zum journalistischen Handwerk gehört aber auch Sorgfalt. Der Autor dieses „Focus“-Textes hat nicht mit mir gesprochen. Er hat einen jungen Mitarbeiter vorbeigeschickt und dann dessen Aufschrieb verwertet. Natürlich ist es jedem Reporter unbenommen, sich einen Gang zu ersparen, in dem er andere bittet, für ihn O-Töne einzufangen. Aber das befreit ihn selbst nicht von der Recherche und schon gar nicht von der Pflicht, die Notizen eines Kollegen korrekt zu lesen und Zitate vor dem Druck der zitierten Person vorzulegen. Anruf genügt.

Dass diese Schludrigkeit gerade mich getroffen hat, der ich seit vierzig Jahren Journalistinnen und Journalisten ausbilde, ist vielleicht eine nette Ironie. Aber mich ärgert es besonders, weil in diesem Fall auch der Reporter Leiter einer Journalistenschule ist, der seine Verfahren an junge Leute weitergibt.

Erzählen auf Teufel komm raus

Für mich ist das ein kleines Beispiel für das Überhandnehmen eines journalistischen Prinzips namens „Storytelling“. Früher haben Journalisten einfach erzählt. Aber heute verfolgen sie eine Strategie, die heißt: Nur wer erzählt, wird erfolgreich. Eine attraktive Geschichte zu erzählen, wird höher gewertet, als verlässliche Fakten zusammenzutragen. Medienhäuser verordnen ihren Redaktionen Storytelling, weil sie glauben, dass der Journalismus damit überlebt. Sie haben die Erkenntnis nicht selbst gewonnen. Bevor der Journalismus davon Wind bekam, war Storytelling ein erfolgreiches Verfahren in Werbung und Personalmanagement. Dass die Fakten darunter leiden können, wird nur in Einzelfällen publik – etwa in diesen Tagen, als die New York Times eine preisgekrönte Serie zurückzog, weil herauskam, dass man sich vom Hauptinformanten, einem angeblichen islamistischen Killer, an der Nase herumführen ließ. Im Detail sind es aber zuhauf erfundene Szenen, die einen Text beleben und die eher harmlos sind, so dass sich deren Protagonisten auch nicht wehren mögen.

Mit Pseudo-Reportagen lässt sich Journalismus nicht retten

Recherchieren und Erzählen lassen sich durchaus vereinbaren. Aber es kostet Zeit. Diese fehlt, wenn man den Berichten anderer überregionaler Medien schnell einen eigenen nachsenden will, wie es hier Focus tat, nachdem FAZ, SZ und andere längst über den „Tübinger Weg“ berichtet hatten.

Der klassische Journalismus hat es schwer. Jeder Journalist ist froh, wenn er eine Geschichte bei Focus unterbringen kann. Und damit das gelingt, muss man die Texte aufpeppen. Heraus kommt dabei oft einfach ein uninteressanter Artikel ohne Neuigkeitswert, der auch um erfundene Szenen angereichert nicht lesenswerter wird.

Der klassische Journalismus wird von vielen Seiten bedroht. Sein größter Feind aber ist die Faulheit.