Der mühsame Weg zum Charisma

„Tatsächlich übersieht Kurz keinen, nicht die Parteiprominenz, nicht die Wirtschaftsvertreter, nicht die Garderobenfrau.“

Das notiert Peter Münch in der Süddeutschen Zeitung über den Österreichischen Alt-Kanzler Sebastian Kurz. Er ist ihm zu einer Wahlkampfveranstaltung ins Burgenland gefolgt, in die Stadt Oberwart. Und sein Text beschreibt detailreich und unterhaltsam die Situation der ÖVP und ihres Spitzenkandidaten kurz vor der Nationalratswahl vom 29. September.

Das Kommunikationstalent des 33-Jährigen wird greifbar. Bemerkenswert: Anders als andere Autoren bemüht Münch nicht ein Mal den Begriff „Charisma“. Dafür beschreibt er treffend, was einen angeblichen Charismatiker auszeichnet:

„Ein großer Teil seines Erfolgs rührt daher, dass er jedem, dem er begegnet, das Gefühl gibt, er ist ganz bei ihm, oder ihr, auch wenn er nach zehn Sekunden schon wieder weg ist.

Charisma als Ausstrahlung

Der landläufige Charisma-Begriff meint ja nicht die Gnadengabe aus der Bibel oder den Herrschaftstyp, den Max Weber beschrieben hat. Wer heute einem Politiker Charisma zuschreibt, spekuliert über dessen Wirkung. Eine Rednerin oder ein Redner (und es sind meistens männliche Figuren, die damit bedacht werden) wird als charismatisch bezeichnet, weil er oder sie die Menschen als Persönlichkeit beeindruckt. Fast austauschbar damit sind Begriffe wie „Ausstrahlung“ oder „Authentizität“, auch wenn die ursprünglich eine ganz andere Bedeutung haben.

Die Pseudo-Charismatiker haben gelernt, ihren Blickkontakt zu intensivieren. Ich habe das im Buch Konstruktive Rhetorik beschrieben:  Beim Bad in der Mange bleiben sie noch eine Sekunde bei dem Menschen, dessen Hand sie geschüttelt haben, obwohl sich ihr Oberkörper schon dem nächsten zuwendet. Sehr schön hat das die Schauspielerin Gillian Anderson beschrieben:

 “… and when he gets to you, he takes your hand and makes eye contact. After he leaves and he moves on to the next person, he looks back at you and seals the deal…”

Sebastian Kurz ist noch nicht so weit wie Clinton. Deshalb kann man zur Zeit noch gut studieren, wie sich seine Technik weiter entwickelt.

Wie geht es mir geht? – Da muss ich kurz überlegen

Eine Wahlkampfveranstaltung in Korneuburg, unweit Wiens. Kurz ist umringt von ÖVP-Fans. Der Reporter hält ihm das Mikrofon hin und fragt (im Video bei 4:50): „Sebastian, ganz kurz an dich die Frage, ganz allgemein: Wie geht’s dir?“

Was er antwortet, braucht hier nicht wiedergegeben zu werden. Informativ sind nicht die Worte, die er in bemerkenswerter Eleganz von sich gibt, sondern sein nonverbales Verhalten vor dem Statement.

Die Frage hört er sich mit intensivem Blickkontakt zum Interviewer an, wie ein Schüler, der gespannt ist, in welche Richtung er jetzt geprüft wird. Dann entwischen seine Augen nach oben, dann nach rechts. Bei den ersten Worten klinkt er sich nochmals beim Frager ein, um sich dann an die Menge zu wenden, in deren Bad er gerade plantscht.

Jeder braucht eine kurze Pause, bevor er auf eine Journalistenfrage antwortet. Aber wer zum Super-Charisma emporstrebt, verharrt während dieser zwei Sekunden mit seinem Blick beim Frager. Er hat den „Pretend Gaze“ erlernt, wie es die Trainerin Marie Forleo nennt:

„Seine Augen sind auf deine gerichtet, aber seine Gedanken sind auf einem Strand auf Hawaii.“