Faktenverleugnung als Interviewtaktik

In Umfragen zeigen in Ostdeutschland mehr Menschen Sympathie für Putin und seine Gewaltherrschaft als im Westen. Das ist der Ausgangspunkt für eine Frage an Bundespräsident Steinmeier. Sie wird gestellt durch Berthold Kohler, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bei deren Kongress „Zwischen den Zeilen“ vom 26. April 2024 (ab Min. 31:40)

Steinmeier hat selbst betont, dass die Freiheitsrechte des Grundgesetzes die Ost- und Westdeutschen gleichermaßen ansprechen. Deshalb ist es nur verständlich, dass er nach einer Erklärung für dieses Ungleichgewicht gefragt wird.

Die Frage

„Man kann da natürlich davon ausgehen“, sagt Kohler, „dass gerade jene, die die Freiheit so lange entbehren mussten, sie besonders zu schätzen wissen.“ Und dann stellt er die einfache Frage:

Warum neigen dann aber offenbar, jedenfalls allen Umfragen zufolge, die Ostdeutschen eher zu einem milderen Urteil oder auch zu eher etwas größerem Verständnis für den Aggressor Putin und seine Despotie und auch zu den Parteien, die sich, die sich zu diesem System hingezogen fühlen als jedenfalls die Menschen im Westen Deutschlands?“

[Genauer Wortlaut am Schluss dieses Textes.]

Es ist eine unangenehme Frage. Aber eine, die sich vielen stellt. Und man vermutet, dass der Bundespräsident sich dazu schon einige Gedanken gemacht hat. Hier seine Antwort:

Ob das nach Köpfen wirklich mehr sind, das lass’ ich mal hintanstehen. In Prozenten mag das so sein, aber ich bin nun wirklich viel, viel, viel im Osten und grade auch in Thüringen und in Sachsen unterwegs gewesen in den letzten Jahren, habe viele schwierige Debatten geführt, grade auch über die Fragen von Krieg und Frieden und wer verantwortlich ist für die – für eine Zuspitzung, politische Zuspitzung, die am Ende zu Angriffskrieg Russlands gegen, gegen die Ukraine geführt hat. Ähm. Ich stelle selten fest, dass ich auf Menschen treffe, die völlig unerreichbar sind für Argumente.

Und schon ist er bei der Erkenntnis, dass viele Menschen mit Argumenten erreichbar seien, dass die Unterstützung der Ukraine „nicht in Frage stehe“ und dass er schon auf der Leipziger Buchmesse zum Thema Grundgesetz gesprochen habe. Damit ist er der Frage wortreich ausgewichen, und hat die Thematik mit waghalsigen syntaktischen Konstruktionen umdefiniert.

Steinmeier-Statistik

Begonnen hat er aber – wie das auch Populisten tun – mit einer Kritik an der Sachinformation.Ich finde: Das hätte man ihm nicht durchgehen lassen sollen: dass er, konfrontiert mit Umfrageresultaten, sagt, in Prozenten möge es so sein, aber

Ob das nach Köpfen wirklich mehr sind, lass’ ich mal hintanstehen.

Was wurde denn in den Umfragen gezählt, wenn nicht Köpfe? – Nasen? Arme und Beine? – Man wäre damit wohl zum selben Resultat gelangt. Ich kann mir nur eines denken: dass die Umfrageinstitute statt der Köpfe die Haare auf den Köpfen gezählt haben. Natürlich  hat sich dadurch eine Schieflage ergeben, weil Glatzköpfe bekanntlich intelligenter sind. Klar, dass dadurch die haarigen Putin-Versteher mehr Gewicht bekommen.

Wie sicher muss sich einer fühlen, dass er sich in einem Interview so aus der Affäre zieht? Und wie wenig Interesse muss er an den Bürgerinnen und Bürgern haben, die auch von ihren demokratischen Repräsentanten ernst genommen werden wollen?

Der Wortlaut:

Frage: Herr Bundespräsident, Sie sagten auch, dass die Freiheitsrechte des Grundgesetzes, das sich nun wahrlich bewährt hat und das wir zu Recht äh feiern, dass diese Freiheitsrechte die Ost- und Westdeutschen gleichermaßen ansprechen würden, und man kann da natürlich davon ausgehen, dass gerade jene, die die Freiheit so lange entbehren mussten, ähm sie besonders zu äh schätzen wissen. Warum neigen dann aber offenbar, jedenfalls allen Umfragen zu dann – zufolge, die Ostdeutschen eher, sage ich: eher zu einem milderen Urteil oder auch zu eher etwas größerem Verständnis für den Aggressor Putin und seine Despotie äh und auch zu den Parteien, die sich, die sich zu diesem äh System hingezogen fühlen als jedenfalls die Menschen im Westen Deutschlands?

Antwort: Ob das nach Köpfen wirklich mehr sind, das lass’ ich mal hintanstehen, ich bin nach Prozenten jedenfalls, in, in, in Prozenten mag das so sein, aber ich bin nun wirklich viel, viel, viel im Osten und grade auch in Thüringen und in Sachsen unterwegs gewesen in den letzten Jahren, habe viele schwierige Debatten geführt, grade auch über die Fragen von Krieg und Frieden und wer verantwortlich ist für die – für eine Zuspitzung, politische Zuspitzung, die am Ende zu Angriffskrieg Russlands gegen, gegen die Ukraine geführt hat. Ähm. Ich stelle selten fest, dass ich auf Menschen treffe, die völlig unerreichbar sind für Argumente. Nicht jeder geht aus dem, aus der Debatte heraus und sagt: Ach so war das, und ja,­– dann können wir wohl nicht anders als äh die Ukraine zu unterstützen. Aber wenn man die Geschichte etwas länger und etwas ausführlicher und nicht im Agenturstil argu, durchargumentiert, sind viele schlicht und einfach äh nach meiner Erfahrung jedenfalls erreichbar und äh. Die Kritik prinzipiell an der von der Bundesregierung und den größten Teilen des Parlaments ja gedeckten und gestützten Unterstützung der Ukraine steht eigentlich auch da nicht in Frage. Wenn Sie auf das Grundgesetz kommen, – ähm, so hab’ ich ja in, in meiner Rede auf der Leipziger Buchmesse das Thema…