Musikredaktion und eine falsche Perspektive

11. März 2011: Kernschmelze in Fukushima. Zu den Folgen gehören Explosionen im Reaktorblock 1, im Reaktorblock 2, im Reaktorblock 3, im Reaktorblock 4.

11. März 2021: SWR 4 bringt kurz vor 12.30 Uhr einen Bericht zum Jahrestag der Katastrophe. Darauf das Lied von Jay Khan: „Du bist hochexplosiv.“

Der Hörer im nicht allzufernen Tübingen findet das unpassend. Sein Hund unterstellt den Leuten von SWR4 gar bösen Humor. Oder Nachlässigkeit. Aber, so muss er lernen, so ist es nicht. Es ist nicht der Fehler von SWR4. Es ist der Fehler des Hundes. Er hat die falsche Perspektive.

Das Interessante ist nicht die Frage, ob da nachlässig programmiert wurde. Interessant ist vielmehr, dass es auffällt, wenn Musik und Worte sich aneinander reiben.

Wir leben in einer Welt der Streamingdienste und der Musikrotation. Bei der Musikprogrammierung hat die Abstimmung mit den redaktionellen Inhalten keine hohe Priorität. Priorität hat die Rotation, die Auswahl der Titel und die Anzahl ihrer Wiederholungen. Man stellt eine Playlist zusammen, und Playlist ist das Gegenteil von Musikauswahl. Die ausschlaggebenden Faktoren sind neben der musikalischen Abwechslung z.B.:

  • das Format des Senders
  • die Tageszeit
  • die Aktualität des Songs

Was gerade in der Welt passiert und in den Nachrichten berichtet wird, passt nicht in eine Welt, in der man sich am Montagnachmittag trifft, um zu entscheiden, welche paar Dutzend Titel in die „Rotation“ aufgenommen, d.h., dem Computer eingespeist werden.

Trotzdem fällt es auf, wenn eine Nachricht und ein Song miteinander ins Gespräch kommen. Warum?

Wenn Spotify meinen Musikgeschmack kennt, kann es mir genau diesen Titel zuspielen, ohne dass ich eine böse Absicht oder gar Nachlässigkeit dahinter vermute. Es kann der Tag sein, an dem die Nachricht von einer Brandkatastrophe das Land erschüttert, und das Programm liefert mir lauter Lieder mit Titeln wie Let It Burn (Red), Fire on Fire (Sam Smith), Girl on Fire (Alicia Keys) oder gar Fire von The Crazy World of Arthur Brown. Ich würde nie im Leben Spotify dafür verantwortlich machen. Aber einem Radiosender würde ich es übelnehmen.

Auf den Radiosender reagiere ich wie auf eine verantwortungsvolle journalistische Autorität. Für mein einfaches Hörer-Ich strömen alle Inhalte aus derselben Quelle, aus dem guten alten Haus, das SWR4 heißt und noch immer die gleiche Anmutung wie seine Vorgänger Südfunk 1 und SWR1.

Es ist also eine Sache der Geneigtheit des Hörers. Der geneigte, dem Radio zugewandte Hörer rechnet mit einer redaktionellen Einheit, mit einem Senderwunderland, in dem Musikleute und Wortleute zusammen ein großes Ganzes komponieren. Es unterscheidet sich von einer Büchse der Pandora, die Amazon- Music, T-Online-News, Netflix-Documentaries und Grüße von Miss Piggy in der Welt versprüht.

Für diesen Hörer ist ein Radiosender ein journalistisches Unternehmen. Ob es jedes Detail hinkriegt, ist da nicht so entscheidend wie die Hoffnung, dass es nicht abgleitet in die Masse der automatisierten Content-Provider.