Fünf Sekunden Leben im Gastvortrag

Nimm dein Publikum wahr. Das ist die einfachste und wirksamste Regel für einen erfolgreichen Vortrag. Je mehr sich Rednerin und Publikum in Kontakt fühlen, desto mehr wird die Veranstaltung zu einer gemeinsamen Sache. Beide, Redner und Publikum, arbeiten mit.

Die Koryphäe der Literaturwissenschaft ist zu einem Vortag in die schwäbische Provinz geladen, in eine der ältesten Hochschulen des Landes. Ihr zu lauschen sind gekommen die Professorinnen und akademischen Mitarbeiter des Instituts, die ihre Werke kennen und so hoch einschätzen wie ihre eigenen. Dazu haben sie vierzig Studierende verpflichtet, damit der Saal voll werde.

Die Dozentin hat ein Manuskript mitgebracht. Aus diesem Manuskript liest sie. Es enthält anspruchsvolle Sätze, die so viel an Literatur und Sekundärliteratur voraussetzen, dass die Fachleute im Raum ihre ernsthafteste Miene aufsetzen und die Studierenden, die die Mehrzahl bilden, vor sich hinsehen, als ob sie alles verstünden.

Die Dozentin liest sechzig Minuten lang. Die Studentinnen und Studenten verharren in ihrer einmal gewählten Haltung. Der Raum ist so übersichtlich, dass er nicht zum Spielen mit iPad oder Smartphone einlädt. Also erdulden sie es.

Was bei der Dozentin ankommt? Spürt sie, wie viel oder wie wenig bei diesem Publikum hängen bleibt? Achtet sie auf Signale aus dem Publikum – Blicke, Stirnrunzeln, leises Lachen?

Wenn sie mit der Absicht gekommen wäre, wahrzunehmen, wer hinhört und wer zu folgen vermag, fiele ihr auf, dass sich nichts und niemand bewegt. Aber für sie ist ein Vortrag ein Text. Wenn der perfekt ist, sind die Anforderungen erfüllt. Interaktion mit dem Publikum gehört nicht dazu. Dialog ist nicht gefragt. Und die wenigen Fachleute im Raum – Professorinnen und Nachwuchswissenschaftler – haben keine anderen Ansprüche. Für sie spricht sie.

Und so sitzt man da, steif und starr und freut sich, wenn man einzelne Wörter oder Sätze oder gar Zusammenhänge versteht.

Der Vortrag hat ein Highlight. Das ist das Ende. Auf den Schlusssatz und ein Wort des Dankes folgen ein paar Sekunden der Stille. Und jetzt regen sich alle. Ganz leicht verschieben sie ihre Oberschenkel, kratzen sich an den Köpfen, richten ihre Augen zwei Zentimeter nach links oder rechts. Es ist wie ein kurzes Kräuseln an der Wasseroberfläche. Ein paar Sekunden Leben.

Dann folgt der Applaus und dann erstarren die jungen Leute wieder bei den jetzt einsetzenden und nicht enden wollenden klugen Fragen der Alten und Gebildeten.

Was hätten man ihr raten können?

  • Entscheide dich, für wen zu sprechen wirst (für Fachleute oder Laien). Wenn du nur Fachleute ansprechen willst, dann schick die Laien ins Freibad.
  • Nimm dir Zeit, ins Publikum zu blicken – nicht um zustimmendes Nicken zu ernten, sondern um zu erkennen, ob man dir noch folgt
  • Sei bereit, auf Zwischenfragen u.ä. zu reagieren, und signalisiere das (z.B. durch Pausen, Umfragen, humorvolle Bemerkungen).