Radiotipps für die Woche vom 29. November bis 6. Dezember 2015

Wie Akram Aylisli vom lebenden Klassiker zum Volksfeind wurde

Von Ernst von Waldenfels

Dienstag, 1.12.2015, 19.15 Uhr DLF

Eine Novelle hat sein ganzes Leben verändert. Akram Aylisli, aserbaidschanischer Schriftsteller prangerte die Verehrung eines zu Recht verurteilten Militärs nach seiner Rückkehr an. Seither ist er Volksfeind Nr. 1 in dem kaukasischen Staat.

2004 hackte ein aserbaidschanischer Leutnant namens Ramil Safarow einem armenischen Offizier mit einer Axt den Kopf ab. Es geschah bei einem NATO-Lehrgang in Ungarn. Angeblich hatte der Armenier im Beisein von Safarow einem anderen Armenier irgendetwas zugeflüstert und dabei gegrinst.

2012 kehrte Safarow nach langer Haft in Ungarn nach Aserbaidschan zurück, wo man ihn unter dem Jubel des Volkes mit Ehrungen überschüttete und sofort beförderte. Doch für einen Mann war dies unerträglich. Es war der schon über 70 Jahre alte Schriftsteller und lebende Klassiker der aserbaidschanischen Literatur Akram Aylisli. Als Reaktion gab er eine Novelle zur Veröffentlichung frei, die von der Vernichtung der Armenier in der Türkei und den antiarmenischen Pogromen in Aserbaidschan Ende der 1980er-Jahre handelt. Womit er über Nacht zum Volksfeind Nr. 1 wurde.

Seine Bücher wurden verbrannt, Frau und Kinder verloren die Arbeit, er selbst wurde mit Verstümmelung bedroht und im Parlament wurde angeregt, seine Gene auf armenische “Verunreinigung” untersuchen zu lassen. Das Feature wurde im Juni mit dem renommierten Radiopreis des Osteuropa-Netzwerks “n-ost” ausgezeichnet.

Leiser Regen auf der Autobahn

Von Lionel Quantin

Mittwoch, 2.12.2015, 00.05 Uhr, DR Kultur

In meiner Kindheit stand jeden Sommer die große Fahrt nach Alicante an, mit Zwischenhalt an der spanischen Grenze bei der schwermütig dreinschauenden Großmutter. Vor dem Einschlafen lauschten wir dem Rauschen der Autos, die unweit von ihrem Gebäude vorbeifuhren. Am nächsten Tag ging die Fahrt weiter, die Autobahn war ohne Ende: “Wie viele Kilometer sind’s noch?”

Auf den Rücksitzen die Badetücher als Sonnenschutz oben in die Scheiben geklemmt; Halt auf Raststätten, wo man unter dem Wellblech der Auto-Unterstände in der Gluthitze erstickte; die Musik, nie laut genug, um gegen den Motorenlärm anzutönen; das lange helle Asphaltband, das sich in einem weißen Himmel verlor; das riesige schwarze Werbeschild in Stierform, das auf einem Hügel das Ende der Reise ankündigte. Was bleibt von diesen Autobahnerinnerungen, heute, in Deutschland, das andere Strecken bietet, ein anderes Anderswo? Sie verbergen sich hinter anderen Stimmen, anderen Geschichten, anderen Klängen, anderen Horizonten.

Żurawlów probt den Aufstand
Ein polnisches Dorf im Streit mit der Fracking-Industrie

Von Martin Sander

Mittwoch, 2.12.2015, 22.03 Uhr, SWR2

Kaum ein Land in Europa hat so auf Schiefergas gesetzt wie Polen in den vergangenen Jahren. Experten wollten in Ostpolen riesige Vorkommen ausgemacht haben, in Warschau feierte man die künftige Unabhängigkeit von Gazprom. Westliche Energiekonzerne spekulierten auf Gewinn und viele Menschen in der Provinz auf gut bezahlte Arbeitsplätze. Die Einwohner von Żurawlów aber waren von Beginn an zutiefst skeptisch. “Wir lassen uns nicht noch einmal vertreiben!”, lautete eine Parole, die auf die Zwangsumsiedlungen der Bewohner im Zweiten Weltkrieg anspielt. Eigensinnig widerständisch verbündeten sich katholische Patrioten mit international versierten Aktivisten. Nach Monaten des Protests verschwand das Gerät vom Testfeld – nachts, spurlos, ohne Erklärung. Ein alter Bauwagen, das Winterquartier der Protestler, ist stehen geblieben – nicht nur als Museum des Widerstands, sondern auch für den Fall, dass Chevron wiederkommen sollte.

“Wahnsinn! Kunst und Leben mit bipolarer Störung

Von Sascha Verlan und Almut Schnerring

Freitag, 4.12.2015, 20.10 Uhr, DLF

Kaum feierte er seine ersten Erfolge, war der Rapper Flowin Immo aus der Szene schon wieder verschwunden. “Bipolare Störung” – so die Diagnose, mit der er sich eine Weile in die Einöde zurückzog, um dort sein nächstes Album zu produzieren.

Obwohl Sebastian Schlösser mit 27 Jahren als Shootingstar der deutschen Theaterszene galt, verzichtete er doch auf seine Stelle als Regisseur am Hamburger Schauspielhaus. Sein Innerstes nach Außen zu kehren, was zum Schauspielberuf dazugehört, davon hatte er in seinen manisch-depressiven Zuständen schon genug.

Auch Naema Gabriel, die gerne Künstlerin geworden wäre, entschied sich gegen diesen Lebensweg – die Krankheit der Mutter hielt sie davon ab, zu groß war die Angst, wie sie an einer bipolaren Störung zu erkranken. Und die bildende Künstlerin Gertrude ist zwar bereit, über ihre “bipolare Begabung” zu sprechen, da ihr aber schon zu viele Künstler mit ihrer psychiatrischen Diagnose Werbung machen, möchte sie in dieser Sendung anonym bleiben.

Tatsächlich: Weit verbreitet ist der Eindruck, ein bisschen Wahnsinn fördere die Kreativität. Von vielen Künstlerinnnen und Künstlern der Vergangenheit wird im Nachhinein vermutet, dass sie eine bipolarer Störung hatten, bei manchen entsteht der Eindruck, sie sei sogar die Voraussetzung für ihre Kunst, dass erst das Leiden diesen besonders klarsichtigen Blick auf unsere gesellschaftlichen Verhältnisse möglich macht. Was sagt das aus über unser Verhältnis zu Kunst und Leben in Zeiten, in denen die Grenzen von Normalität und Gesundheit immer enger gezogen werden, in denen der Konformitätsdruck weiter steigt?

Im Rausch der Veränderung
Der Theatervisionär Matthias Lilienthal

Von Christine Hamel

Samstag, 05.12.2015,13:05 Uhr, Bayern 2
Wiederholung am Sonntag, 21.05 Uhr

Sein Markenzeichen: Baggy Jeans, sattgelbes T-Shirt, graue Kapuzenjacke. Seine Berufung zum Intendanten der Münchner Kammerspiele: ein Paukenschlag. Dass ihn die Leute manchmal für den Hausmeister halten, findet Matthias Lilienthal lustig. Es gibt nicht viele Menschen, die so beiläufig und nachdrücklich Unruhe stiften können wie der Berliner Theatermacher, der ab Herbst 2015 die Nachfolge von Johan Simons in München antritt. Lilienthal bringt große Namen mit: Nicolas Stemann, Simon Stone, Rabih Mroué oder Christopher Rüping. Sie alle stehen für den Versuch, das Bild einer alternativen Welt, einer anderen Dimension von Zeit und Bewusstsein sichtbar zu machen. Mit Matthias Lilienthal werden die Kammerspiele zu Kammer 1/2/3, zu einem Kunstcluster und “urbanen Theaterlabor”, in dem gesellschaftliche Gruppen in Bewegung gebracht werden sollen. Große Pläne, viel Arbeit. Wie viel Fahrt werden Lilienthals Kammerspiele aufnehmen?
Christine Hamel hat den Intendanten, der selbst nicht inszeniert, über mehrere Monate bei seinen Vorbereitungen für die erste Spielzeit in München begleitet. Ihr Feature portraitiert einen ebenso hartnäckigen wie begnadeten Theatervisionär, den manche als Stadttheaterschreck fürchten und andere als Avantgardisten verehren.

Verschwunden
Die Frau auf dem Eis

Von Rikke Houd

Samstag, 5.12.2015, 18.05 Uhr, DR Kultur

Die junge dänische Krankenpflegerin Karen Roos wurde 1932 in das ferne Ostgrönland entsandt – als erste und einzige medizinische Fachkraft für die damalige dänische Kolonie. In der dünn besiedelten Gegend war sie weitgehend auf sich selbst gestellt, für die Versorgung von Kranken musste sie oft weite Strecken zurücklegen.

Nach einem halben Jahr verschwand sie, die einzige Spur von ihr blieben Fußabdrücke im Schnee, die an den Rand des Eises führten, und ein Tagebuch, aus dem die letzten Seiten herausgerissen waren.

Über 80 Jahre später macht sich Rikke Houd auf die Reise, um die Hintergründe dieses Verschwindens erneut zu untersuchen.

P = ϕ (A, B, γ)
Ein Schuldenwiderstandsoratorium

Von Barbara Eisenmann und Frieder Butzmann

Sonntag, 6.12.2015, 14.05 Uhr, SWR2

Von einem neuen Zeitalter wollen wir erzählen: von globalen Schulden und globalem Widerstand. Es tauchen auf: Großgläubiger, die Finanzmärkte, der verschuldete Mensch und sein Widerstand und eine finanzmathematische Formel, in der eine Schuldenkrise nicht vorgesehen war. Wir werden die Stimme der Schuldner hören.

Amerikanische Hypothekendarlehensnehmer, Mikrokreditnehmerinnen in Indien, griechische Billiglöhner, zwangsgeräumte Spanierinnen. Die Finanzmärkte brauchen sie. Denn Schulden sind Geld.

Wir werden die Stimme der Gläubiger hören, deren Geschäft Kredite, Hypothekendarlehen, Kreditversicherungen und immer neue schuldenbasierte Finanzprodukte sind.

Wir werden die Stimme der Politiker als Vertreter der Gläubiger hören, die die Bedingungen für den neuen Schuldenkapitalismus geschaffen haben, den sie jetzt um jeden Preis retten wollen. Wir werden sie alle hören in einem Oratorium von Schulden, Schuld und Widerstand.

“Wir alle irren!” –
Das undogmatische Kabarett des Hanns Dieter Hüsch

Von Rainer Prätorius

Sonntag, 6.12.2015, 18.05 Uhr, hr2

Hanns Dieter Hüsch starb vor genau 10 Jahren am 6. Dezember 2005.
Von seinen 80 Lebensjahren hatte er über 50 auf der Bühne verbracht.
Sein Kabarett war immer ganz nah am Menschen – und zutiefst menschenfreundlich. Sein einzigartiger Stil hinterließ nachhaltige Spuren im deutschen Kabarett. Eine Hommage zum 90. Geburtstag von Hanns Dieter Hüsch. Mit Künstlern, die ihm auch persönlich nahestanden. Darunter Dieter Nuhr, Konstantin Wecker und Rüdiger Hoffmann.